Menschen in WienArtistin

Wiener Festwochen: ein interdisziplinäres Projekt

Béla Tarr gehört zu den renommiertesten Autoren-Filmern der Gegenwart. Für die ­Wiener Festwochen hat er das Projekt Missing People entwickelt, das sich mit Armut und Wohnungslosigkeit auseinandersetzt. Auch AUGUSTIN-Verkäufer_innen sind beteiligt. Ruth Weismann war bei den Dreharbeiten.

Bildunterschrift: Missing People – Ein Film-Installations-Performance-Projekt mit Menschenaus Wien
Foto: Béla Tarr / Fred Kelemen

«Schauen sie die Sonne an, look at the sun, schauen sie ins Licht …» Eine Frauenstimme spricht ins Mikrofon, beruhigend, langsam, in Deutsch, Englisch, Bosnisch, Ungarisch, … Die Worte immer wiederholend, steht am Rande des Saals, es ist Dunkel. Nur vorne, ein Scheinwerfer auf den Vorhang projiziert. Mehr und mehr Menschen kommen schweigend durch das Tor, alte, junge, mit Rucksäcken oder Taschen. Atmosphärische Musik erfüllt den Raum. Tische mit umgekippten Gläsern, Girlanden, Glitzer … Alle bleiben stehen, und schauen minutenlang ins Licht. Meditativ fühlt sich das an. Der Kameramann filmt die Gruppe von vorne.

Warten und drehen. Zum 6. Mal wird diese Szene heute gedreht, hier in der Halle E im Museumsquartier. Béla Tarr sitzt vorm Monitor und sagt auf Englisch: «Die ist die beste, die nehmen wir.» Es ist April, der 63-jährige ungarische Regisseur dreht gerade den Film für Missing ­People – ein Projekt, das er für die Wiener Festwochen erarbeitet. Knapp 200 Darsteller_innen wirken mit, von ihm selbst in Wien gecastet, in Einrichtungen für Wohnunglose etwa. «Es war ein langer Prozess» sagt er im AUGUSTIN-Gespräch. Und: «Ich kenne nichts von Wien, aber ich kenne alle Tages- und Nachtunterkünfte.»
Der Titel Missing People bezieht sich auf die tägliche Unsichtbarmachung von Menschen, die nicht der bürgerlichen Norm entsprechen. Menschen ohne Obdach, Drogenkonsument_innen, Menschen in sehr prekären Arbeitsverhältnissen, Bettler_innen. Jene, die nicht in die Sissi- und Lipizzaneridylle passen. Und die auch nicht das reguläre Publikum des urbane Lässigkeit vermittelnden Museumsquartiers sind.
Ein jener, die heute vor der Kamera stehen, ist Ernst. Er verkauft den ­AUGUSTIN und hat bereits Erfahrung als Statist, wie er erzählt. So viel, wie er an Gage bekommt, kann er an einem Tag sonst nicht verdienen, meint er. Er findet es ganz gut hier, nur das Essen heute weniger. Zwei Tage wird er dabei sein. Lyubov, die auch die Straßenezeitung verkauft, ist für alle fünf Drehtage engagiert. denn an den letzten drei Tagen entstehen Szenen, in denen einige der Darsteller_innen einzeln gefilmt werden. Am letzten Drehtag wartet sie im Speise-Zelt auf ihren Auftritt, zusammen mit ihrem kleinen Hund. Alle Anwesenden scheinen ein bisschen müde. Er sei gespannt, was rauskommen wird, meint ein freundlicher älterer Herr mit goldenem Ohrring. «Ich möchte es mir unbedingt ansehen.» Er kam über die Tagesstätte s’Häferl zum Projekt. Das Warten macht ihm nichts aus. «Ich werde ja dafür bezahlt» meint er und lacht. Lyubov erzählt, dass sie als Kind Schauspielerin werden wollte. «Ich habe auch in der Schule immer Theater gespielt.» Sie erfüllt sich hier ein Traum.

Kunst und Realität. Missing People ist die Antwort eines Künstlers auf die Politik – nicht nur in dem Land, in dem er lebt. «Ich habe im Herbst in den Nachrichten über das neue Gesetz von Orbán gelesen, dass Obdachlose wie Kriminelle behandelt werden sollen», erzählt der Regisseur. «Am selben Tag, ein paar Stunden später, las ich, dass die Bürgermeisterin von Paris das Rathaus für Obdachlose öffnet, da es Winter wurde. Da dachte ich, ich muss etwas machen.» Die Einladung der Festwochen, nutzt er nun dafür.
Seit Ende der 1970er-Jahre ist Béla Tarr als Filmemacher aktiv, sein Film Verdammnis von 1988 gilt als Beginn seines charakteristischen Stils: Lange Einstellungen in schwarz-weiß, hartes Landleben, Melancholie, Abstraktion. Tarr zeigte auf wichtigen Festivals wie etwa in Cannes, für seinen letzten Film von 2011, Das ­Turiner Pferd, wurde er auf der Berlinale geehrt. Missing People ist kein Film, sagt er. «Es hat einen Film-Part, es ist aber auch eine Installation, es gibt Live-Musik … Ich weiß nicht, wie ich das nennen soll.»

Lebenswerte Stadt? Dass Wohnungslosigkeit und Armut auch in Wien – einer Stadt, die regelmäßig Rankings der lebenswertesten Städte der Welt gewinnt – existiert, weiß auch Jan Pisarek, der ebenfalls die Straßenzeitung verkauft. Er hat für Missing People einen sehr persönlichen Text über seine Obdachlosigkeit geschrieben, der bei den Aufführungen verteilt werden wird. «Man braucht soziale Beziehungen und braucht Selbstbewusstsein» schreibt er da, und spricht damit an, was jeder Mensch braucht. Das zu unterstützen müsste Grundsatz jeder Gesellschaft sein.
Zurück zu Tag eins des Drehs: Die nächste Gruppen-Szene wird gefilmt. Am Eingang sitzt ein junger Mann am Boden, an die Wand gelehnt, und fragt nach Zigaretten. Er bedeutet, dass er gerade nicht mitmachen mag. Ein paar Leute sitzen im Hof und unterhalten sich, einer schläft am Boden. Eine Produktionsmitarbeiterin im Saal ruft einem Mann zu: «Nicht aus den Flaschen trinken, die gehören zum Bühnenbild!» AUGUSTIN-Verkäuferin Susi muss lachen: «Daran haben sie nicht gedacht, dass jemand das trinken wird, wenn halbvolle Bierflaschen dastehen.» Susi findet die Stimmung hier aber sehr nett. Béla ebenfalls: «Das Shooting war einfach perfekt. Wir hatten keine Konflikte und die Atmosphäre war gut.»

Missing People
13.–16. Juni, 18–21 Uhr
7., Museumsquartier, Halle E
Tickets: 20 Euro

Am 15. Juni können beide Vorstellungen gegen Vorlage eines aktuellen AUGUSTIN bei freiem Eintritt besucht werden. Karten sind nach Verfügbarkeit an besagtem Datum an der Abendkasse im Foyer der Halle E+G erhältlich.

www.festwochen.at

 

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