Martin Ladstätter von BIZEPS zum Maßnahmenvollzug
Der Maßnahmenvollzug soll reformiert werden. Wie und wann, ist ungewiss. Günter Schwedt und Markus Drechsler von der Selbst- und Interessenvertretung zum Maßnahmenvollzug haben mit Martin Ladstätter vom Behindertenberatungszentrum BIZEPS über die Aussichten auf Besserung gesprochen.
Sie haben gemeinsam mit Marianne Schulze in der Justizanstalt Mittersteig Untergebrachte besucht. Was ist Ihnen davon im Gedächtnis geblieben, welche Erinnerung aus den Gesprächen ist am nachhaltigsten?
Ich habe eine Vielzahl von Erinnerungen an diesen Besuch. Es war nicht das erste Mal, dass ich so etwas gemacht habe. Was mich persönlich am meisten schockiert, ist die strukturierte Hilflosigkeit des Systems. Das betrifft jene, die es verwalten, und jene, die darunter leiden müssen. Außerdem schockiert mich das gesellschaftliche Wegschauen, um das System zu stabilisieren. Wenn ein gesellschaftlicher Konsens vorhanden wäre, um dieses hilflose System auf Beine zu stellen, die menschenrechtlich fundiert wären, wäre es ein anderes System. Das Wegschauen aber stabilisiert es. Das ist nicht nur im Maßnahmenvollzug so, das ist auch bei Pflegeheimen und bei Behinderteneinrichtungen so. Durch meine Arbeit sehe ich die Parallelen, die es gibt. Es ist eine Aussonderung von Menschen, die man nicht in der Gesellschaft haben will. Der Ansatz in Bezug auf die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Artikel 19, wäre «Leben in der Gesellschaft». Das wird im Maßnahmenvollzug 2015 so nicht gelebt.
Es gibt Bestrebungen des Ministers, den Maßnahmenvollzug zu reformieren. Wären Sie zufrieden, wenn die Vorschläge der Arbeitsgruppe umgesetzt werden würden?
Viel wichtiger wäre es, wenn Sie zufrieden wären. Das ist der von mir erwähnte Selbstvertretungsanspruch. Wenn ich als Außenstehender glaube, dass es passt, ist es vielleicht eine interessante Einzelmeinung, aber viel relevanter ist die Meinung derjenigen, die hier arbeiten und hier untergebracht sind. Es ist schade, dass mit den Partner_innen, die für eine Transformation dieses Systems notwendig sind, überhaupt nicht gesprochen wurde. Ich habe auch gehört, dass mit den Bundesländern überhaupt nicht strukturiert verhandelt wurde. Wenn man das System aus dem haftähnlichen Charakter rausholt und in ein anderes System transferiert, ist man sehr schnell im Verantwortungsbereich der Bundesländer. Vielleicht fehlen mir da auch Informationen, aber was ich bisher gehört habe, sind die Bundesländer nicht bereit, hier einen wertvollen Beitrag zu leisten. Sie waren auch in der Arbeitsgruppe nicht vertreten, und ich habe bereits gehört, dass die Bereitschaft nur dann besteht, wenn der Bund das finanziert. Die ganze Reform des Maßnahmenvollzugs gelingt oder scheitert an den Verhandlungen zum Finanzausgleich, die jetzt beginnen. Hier müssen klar die Aufgaben verteilt werden. Wenn da nicht enthalten ist, dass die Bundesländer dafür zuständig sind und daher Ausgleichszahlungen erhalten, wird es nicht funktionieren.
Es sind auch interessante Aspekte in den Reformvorschlägen der Arbeitsgruppe enthalten, man sieht aber auch, was sie sich nicht getraut haben anzugreifen. Der Mut war endenwollend, dieses System komplett umzubauen. Zwischen Revolution und Evolution sind noch ein paar Schritte. Zu dem kommen noch die ganzen strukturellen Probleme des Maßnahmenvollzugs.
Sehen Sie es als wichtig, dass auch im Maßnahmenvollzug Selbstvertreter_innen geschaffen werden?
Nein, das ist keine Wichtigkeit, das ist eine absolute Notwendigkeit. Wir haben ganz bewusst Selbstvertretern des Maßnahmenvollzugs in einer Kampagne dabei unterstützt, an die Öffentlichkeit zu treten. Aus der Überlegung heraus, dass man nicht für Selbstbestimmung eintreten kann, und dann aber doch die Meinung vertritt, besser zu wissen, was für andere gut ist und was man zu wollen hat. Diese Partizipation von Selbstvertretern des Maßnahmenvollzugs in der Arbeitsgruppe zur Reform hat aber nicht stattgefunden. Das wäre aber eine absolute Notwendigkeit gewesen. Es wäre die Gelegenheit gewesen, dass die Teilnehmer erfahren hätten, wie es wirklich ist, und nicht nur eine akademische Haltung zu vertreten mit der Ansicht «Ich kann mir vorstellen, was dort läuft», sondern so, wie der Alltag der Beschäftigten und der Untergebrachten tatsächlich verläuft. Das hat leider gefehlt.
Wir haben die gleiche Diskussion jetzt gerade zwischen Bund und Ländern. Sie vereinbaren die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention und haben in der ersten Sitzung beschlossen, die Betroffenen nicht einzuladen. Partizipation ist in Österreich sehr unterentwickelt, und darum muss man kämpfen. Selbstbestimmung muss man in allen Bereichen ernst nehmen, und alle Bereiche heißt nun mal ALLE Bereiche.
Halten Sie das Inhaftieren von Menschen nach dem Strafende aus präventiven Gründen für menschenrechtlich vertretbar? Vertreter_innen des Systems sehen das Inhaftieren nicht als Strafe, sondern als Therapie – ähnlich die Argumentation Deutschlands am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte –, und halten das auch für menschenrechtlich unbedenklich.
Das hat mir so noch niemand erklären können. Wenn man sagt, dass man über die Strafe hinaus angehalten wird, dann muss das sachlich rechtfertigbar sein. Sachlich gerechtfertigt ist es aber nicht, wenn man Systeme, die für die Betroffenen besser wären, die man sich aber als Gesellschaft nicht leisten will, nicht hat. Das Leben in der Gesellschaft kann auch anders sein, das muss nicht durch Wegsperren sein. Das kann auch durch viel mehr Unterstützungsmaßnahmen sein.
Spiegelt das einfache Wegsperren unser heutiges Gesellschaftsbild wider?
Natürlich, und da sind wir dann wieder bei den Parallelen. Wir kämpfen sehr intensiv für die «persönliche Assistenz», was bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen individuelle Unterstützung bekommen. Das kostet viel Geld, ich zum Beispiel bekomme von der Stadt Wien 5.000 Euro, damit ich Unterstützung zukaufen und Mitarbeiter_innen anstellen kann, damit ich am Leben in der Gesellschaft teilnehmen kann. Die Stadt Wien kann auch sagen, dass das nicht notwendig ist, und stattdessen einen Heimplatz schaffen. Dann wäre ich allerdings eingesperrt mit exakt denselben Zuständen, wie sie in Haftanstalten vorzufinden sind. Da darf man dann am Dienstag und am Freitag duschen, egal ob im Winter oder im Sommer – als Begründung gibt es dann das Ressourcenproblem. Will ich als Gesellschaft die Menschenrechte des Einzelnen umsetzen, oder mache ich eine Mangelverwaltung? Es gibt Gruppen in der Gesellschaft, die meinen, das ist der Einzelne nicht wert. Ich bin in der Volksanwaltschaft im Menschenrechtsbeirat und darf daher nur relativ wenige Details erzählen. Ich sehe durch die Prüfberichte aber, was in Altenheimen passiert, zum Beispiel der nun in den Medien diskutierte Medikamentenmissbrauch, damit die Menschen dort um sechs Uhr im Bett sind und schlafen.
Im Maßnahmenvollzug ist es das Gleiche. Warum kann ich jemandem nicht eine Betreuung zur Seite stellen, damit er in einer eigenen Wohnung leben kann? Das ist natürlich derzeit noch illusionär, aber meiner Meinung nach menschenrechtlich gefordert. Warum soll ich jemanden lebenslang wegsperren müssen, nur weil ich Angst habe? Natürlich muss es gewisse Schutzmechanismen geben, aber die müssen nicht zwangsläufig hinter einer Mauer sein. Es wird bei manchen extrem aufwendig sein, aber menschenrechtlich notwendig. Auch auf die Gefahr hin, dass wir manchmal scheitern. Trotzdem hat jeder seine Menschenrechte. Wir scheitern bei vielen Dingen, aber es nicht zu versuchen ist auch ein Scheitern mit der Zusatzkomponente, dass ich jemandem damit die Menschenrechte verweigere, und genau das ist nicht verantwortbar. Ich verstehe auch, dass jedes Opfer einer Straftat höchst sensibilisiert und verängstigt ist, aber dennoch hat die Gesellschaft eine Verantwortung für jedes Mitglied der Gesellschaft. Auch bei den Mitgliedern, bei denen ich Vorsicht walten lassen muss, hat die Gesellschaft trotzdem die Verantwortung, denn die Menschenrechte kann man nicht verwirken.
Es ist auch ähnlich wie bei der Inklusion in der Schule. Bei vielen Schüler_innen wäre es überhaupt kein Problem, bei manchen wäre es sehr herausfordernd, und bei manchen fehlt uns jetzt noch die Fantasie, wie es realisierbar wäre.
Dieses Interview ist erschienen in:
Markus Drechsler, Blickpunkte (Hg.):
Maßnahmenvollzug. Menschenrechte – weggesperrt
und zwangsbehandelt
Mandelbaum 2016, 368 Seiten, 24,90 Euro
Im selben Kontext erschienen:
Tobias Batik, Julia Dragosits: Das Volk will es so. Über das Leben als
«geistig abnormer Rechtsbrecher»
Mandelbaum 2017, 168 Seiten, 14 Euro
Beide Bücher werden am 28. April präsentiert:
19 Uhr, ’s Häferl, 6., Hornbostelgasse 6