Michelle R. trotzt der Desozialisierungtun & lassen

AUGUSTIN-Reportagestipendium 2020

Nach 18 Jahren wird Michelle R. aus dem Gefängnis entlassen. Der österreichische Strafvollzug schreibt sich Resozialisierung und Läuterung auf die Fahnen, hinterlässt aber körperliche und seelische Verletzungen. Wie geht es einer Transperson in Haft, und wie lebt sich das Leben in der wiedergewonnenen Freiheit?

TEXT: Christof Mackinger
FOTOS: Bettina Fleischanderl

Die silberne Krawattennadel fixiert den Schlips hinter dem schwarzen Gilet. Sichtlich zufrieden halten sich der glatt rasierte Bräutigam und die Braut in den Armen. Sanft fällt das lange Haar über ihre Schultern. Die Ohrringe passen zum schlichten Kleid, in den Händen hält Michelle R. ein buntes Blumensträußchen. Nur das vergitterte Fenster im Hintergrund deutet den Ort der feierlichen Trauung an. Im wenig charmanten Besuchsbereich der Justizanstalt Wien-Mittersteig konnte sie am 11. September 2017 schließlich stattfinden: die Hochzeit zweier Gefangener, Michelle R. und Oliver R., eine Transfrau mit ihrem Mann – zusammen fast ein halbes Jahrhundert Hafterfahrung.
«Für Getränke und Torte sorgt die Anstalt», ließ man die Besucher_innen wissen. Der Kuchen war kaum fertig aufgetaut, eine Handvoll Zwei-Euro-Münzen zur freien Entnahme ersetzte die Bar: Cola, Eistee und Sprite in der Halbliter-PET vom Automaten. Kein Dutzend Gäste waren es, die von der Justizwache beim Einlass durch den Metalldetektor gelotst wurden. Knast-Romantik «at its best».
Dabei spielen die Umstände des heutigen Tages für das Paar eine weniger große Rolle als die Tatsache, dass er endlich gekommen ist. Bereits im August 2014 wurde den beiden die Verpartnerung genehmigt – Michelle R. war zu diesem Zeitpunkt noch ein Mann. Zahl­lose Hürden, die der Gefängnishochzeit in den Weg gelegt wurden, verzögerten das Unterfangen. «Kaum war die Hochzeit genehmigt, wurde Olli in die Karlau und ich in die Anstalt am Mittersteig verlegt», schrieb Michelle R. einer Freundin im Jahr 2017. «Hier in der Anstalt herrscht eine homophobe Ablehnung von mir als Transfrau und meinem Mann.» Insbesondere die Beamt_innen hätten für ihre Lebensweise «unendliches Unverständnis».

Die Lebensweise.

Ihre «Lebensweise» – damit umschreibt Michelle R. auch heute noch ihre Identität als Transfrau, der sie sich in den Jahren bis zu ihrer Trauung 2017 zunehmend angenähert hat. Schon als Jugendliche trug sie immer wieder Frauenkleider. Dann aber kam die Haft. Im Jugendgefängnis war es für R. undenkbar, sich als Frau zu kleiden, und auch als sie in den Erwachsenenvollzug in die Justizanstalt Graz­-Karlau verlegt wurde, konnte sie ihre Trans­identität nicht offen leben. «Wenn du dort mal in die Opferrolle reinfällst, ist es vorbei.» Erst im Gefängnis Krems-Stein traute sie sich wieder, Frauenkleidung zu tragen. Just landete sie damit 2015 am Cover eines reißerischen Gratisblatts: «Stein-Häftling darf in
Zelle Frauen-Dessous tragen.» Verächtlich war die Rede von einer «grotesken Ausnahmegenehmigung».
Michelle R.s Leben gleicht einer Reise durch den österreichischen Strafvollzug und über Geschlechtergrenzen hinweg. Seit Juni 2020 ist die 35-Jährige nun frei. Ob sie in den vielen Jahren im Gefängnis resozialisiert wurde und ob das überhaupt nötig war, ist kaum zu beantworten. Sicher ist: Das Leben nach zwei Jahrzehnten Haft ist kein einfaches, mit einer Transidentität noch weniger. Michelle R. nimmt die größten Hürden in ihrem Leben gekonnt, nicht zuletzt mit Hilfe eines unterstützenden Umfelds. Soviel kann vorab gesagt sein: Michelle R. hat bislang gut zurück in ihr Leben in Freiheit gefunden. Nicht wegen, sondern trotz Gefängnis.

Ein ganz falscher Plan.

Erst kürzlich habe ihre Freundin zu ihr gesagt: «Aus dir hat ja nix werden können», erzählt Michelle R. lachend. Michael R. – das war der Name vor der Transition – hatte eine schwierige Jugend: Drogen, Selbstverletzungen und ein Aufenthalt im Heim, erste Suizidversuche und Psy­chiatrie. Wohlgefühlt hat sich Michael R., wenn er Frauenkleider trug. Und als er das Konzept Transgender kennenlernte, wusste er: Michael soll Vergangenheit sein, die Zukunft gehört Michelle.
Aber wie bewerkstelligen? Der skrupellose Plan eines neuen Bekannten, an Geld zu kommen, gab R. die Hoffnung, sich einer kostspieligen, geschlechtsanpassenden Operation unterziehen zu können. Ein unglaublich falscher Plan: Am 24. Juni 2003 verurteilte ein Gericht in Korneuburg die beiden wegen versuchten Mordes, wegen schweren Raubes und schwerer Nötigung. Michael R., damals 17 Jahre jung, bekam zwölf Jahre Gefängnis. Der erwachsene Komplize lebenslang, er habe den Jugendlichen zur Tat überredet, war sich die Staatsanwaltschaft sicher. Aufgrund früherer Psychiatrieaufenthalte «ham s’ mir dann die Persönlichkeitsstörung zuaweg’haut», erzählt Michelle R. heute in breitem Niederösterreichisch. Die Einweisung in eine «Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher» war die Konsequenz: Maßnahmenvollzug.
In dieser Zeit brach auch R.s Mutter den Kontakt ab. Hätte sie damals für ihren Sohn Michael eine Bürgschaft abgelegt, wäre ihm die Untersuchungshaft erspart geblieben. Hat sie aber nicht. «Zum Glück», wie Michelle R. heute sagt. «Sonst wär ich damals fix abgehaut.»
Gender und Gefängnis. All die Jahre, die Michelle R. im Gefängnis ihre Trans­identität lebte, erfuhr sie selten Diskriminierung, erzählt sie heute. Öfter sogar überraschende Unterstützung: «Wir waren zu zweit auf der Abteilung mit unserer Lebensweise.» Ein befreundeter Inhaftierter, «ein Trainierer», habe sie beide geschützt. «Wenn die beiden in der Dusche sind, dann geht da niemand rein», hieß es. Studien zu Transfeindlichkeit in Haft gibt es wenige. Forscher_innen gehen davon aus, dass das Gefängnis ein «stark homophobes Milieu» sei, unter dem lesbische, schwule oder Trans­-Gefangene besonders leiden würden.
Michelle R.s gute Erfahrungen dürften eher die Ausnahme sein.
Ihr Traum vom anderen Geschlecht erfüllte sich 2018: Aus Michael wurde Michelle, ganz legal. Mit gewachsenem Selbstbewusstsein kämpfte sie monatelang um eine Personenstandsänderung. Das Personenstandsregister speichert Daten, wie das der Geburt oder des Geschlechts. «Erweist sich das eingetragene Geschlecht aber im Laufe des Lebens als unrichtig, dann ist das zu ändern», weiß Helmut Graupner. Der Rechtsanwalt ist Vorsitzender des Rechtskomitees Lambda. Für den Eintrag im Personenstand ausschlaggebend sei allein das psychische Geschlecht, nicht das körperliche, so Graupner. Und welches das ist, das ist eine sehr persönliche Entscheidung. «Über die Geschlechtsidentität eines Menschen darf niemand anderer bestimmen. Auch nicht der Staat», sagt Graupner. Nach dem Gesetz muss eine Änderung erfolgen, wenn die «Diagnose Transsexualität» und eine Annäherung an das Erscheinungsbild des anderen Geschlechts gegeben sind. Dafür brauche es Termine bei Beratungsstellen, Psycholog_innen oder Ärzt_innen – aus dem Gefängnis heraus alles «eine Herausforderung, um die es sich aber zu kämpfen lohnt», so der Anwalt.
Mit der Personenstandsänderung wurde Michelle R. auf die Frauenabteilung in der Justizanstalt Asten in Oberösterreich verlegt. Gepasst hat es dort aber gar nicht. R. fing wieder an, sich zu schneiden. Sie wollte zurück. «Ich bin jahrelang mit Männern auf der Abteilung gewesen, mir ist das egal.» Ihrem Wunsch wurde Folge geleistet, mit der Anordnung: auf der Männerabteilung nur Röcke Minimum Knielänge.

Resozialisierung für Profis.

«Der Vollzug der Freiheitsstrafe soll den Verurteilten zu einer rechtschaffenen und den Erfordernissen des Gemeinschaftslebens angepassten Lebenseinstellung verhelfen und sie abhalten, schädlichen Neigungen nachzugehen», steht im Strafvollzugs­gesetz. Die Resozialisierung gilt als oberstes Prinzip des Strafvollzugs, soll also eine Art «Besserung» darstellen. Kann Strafvollzug das leisten? Ein Experte in solchen Belangen ist Friedrich Olejak, sozusagen ein Resozialisierungsprofi. Unglaubliche 41 Jahre seines Lebens hat der Wiener im Gefängnis verbracht: Raub, Diebstahl und Banküberfälle waren sein Metier. Anders als Michelle R. blickt Olejak auf eine ganze Reihe von Rückfällen zurück, immer wieder landete er im Gefängnis. «Ich hatte immer nur ein Jahr Urlaub zwischen den Haftaufenthalten», lacht er und fährt sich sichtlich gut gelaunt durchs kurz geschnittene Haar.
Anders als bei Eigentumsdelikten ist die Rückfallquote bei Delikten «gegen Leib und Leben» nicht sehr hoch. Morde sind oft Resultat situativer Eskalationen, die nicht zwangsläufig auf eine gewalttätige Persönlichkeit schließen lassen, so gewaltvoll die Taten selbst auch sind. Aber auch Friedrich Olejak ist mittlerweile seit neun Jahren auf freiem Fuß. Hier baut er einen Verein zur Unterstützung von Haftentlassenen auf – schließlich hat er viel Erfahrung mit dem Rauskommen. Der redselige Pensionist kennt beide Seiten, die Knastkarriere und auch den Ausstieg daraus. Aber was ist seiner Resozialisierung so lange im Weg gestanden? Für Olejak gab es wenige Gründe, nicht im Gefängnis sein zu wollen. Die Justizanstalt Krems-Stein war die längste Zeit sein gewohntes Habitat: «Ich hab ja alles gehabt!», sagt der 71-jährige Mann und lacht. Nachtstrom, Vorhänge, einen Spannteppich und sogar ein 70-Liter-Aquarium in der Zelle. Darunter versteckt: sein illegales Handy. Neben dem knappen Lohn aus der Arbeit im Gefängnis hat Olejak ein illegales Wettbüro betrieben. «Damit hab ich mir zehntausend Schilling nebenbei verdient.» Schnell ausgegeben war es aber auch. «Ich hab auf West E» – dem Hochsicherheitstrakt der Justizanstalt Krems-Stein – «mehr Hasch geraucht als jemals draußen.» Er lacht laut. «Am sichersten Ort Österreichs!» Und wie hat er die Resozialisierung im Strafvollzug erlebt? «Die machen nichts, außer die Leute in Fachln zu schieben, dann im Hof spazieren gehen und zurück ins Fachl», beschreibt Olejak den Tagesablauf in Haft. «Da liegt ein unheimliches Potential brach.» Zum Beispiel kenne er kaum Inhaftierte, die studieren würden.
Michelle R. konnte im Gefängnis Arbeitserfahrung sammeln, aber keinen Lehrabschluss machen. Gelehrt wurde dort nämlich vor allem eines: «Viel Scheiße. Die hätte ich draußen nie gelernt.» Heute weiß R., wie man eine Tätowiermaschine baut oder was man braucht, um Wodka zu brennen, erzählt sie grinsend. Jedes Potential werde im Gefängnis mit Sicherheit hintertrieben, ärgert sich Olejak. «Früher gab’s in Stein 220 Computer. Dann hat irgendeiner eine Schnittstelle eingebaut, damit er telefonieren kann. Dann wurden gleich einmal vierzig Stück eingezogen.» Trotz Arbeit als Magazineur habe Olejak während seiner letzten Haftstrafe nur 4.800 Euro angespart, in 28 1/2 Jahren. Auch Michelle R. wurde nur mit «knapp über einem Tausender» entlassen. Undenkbar, sich davon ein neues Lebens aufzubauen. Dass ehrliche Arbeit reich macht, kann man im Gefängnis also nicht lernen. Warum aber hat Olejak es letztlich doch geschafft, seiner kriminellen Karriere ein Ende zu setzen? «Im Prinzip war es das Alter. Da lässt alles nach.» Michelle R. ist noch jung, vieles liegt noch vor ihr. Etwa, mit der Vergangenheit abzuschließen. Das hat sie schon einmal versucht.

Entschuldigung von drinnen.

«Der Strafvollzug soll den Unwert des der Verurteilung zugrunde liegenden Verhaltens aufzeigen.» Auch das steht im Strafvollzugsgesetz. Hält das Gesetz zumindest dieses Versprechen? Jahre nach der Tat wollte sich Michelle R. entschuldigen. Sie schrieb der Frau, deren Leben sie zerstört hatte, aus dem Gefängnis. Vonseiten der Anstalt sei ihr mitgeteilt worden, «sie soll das lassen», ihr Brief sei abgefangen worden. R. hätte sich gerne erklärt, wollte offenlegen, wie es zur Tat kam. «Viele Opfer wollen sicher wissen, warum man das gemacht hat», schildert R. ihre Überlegungen. «Es war ja eigentlich nur ein blöder Zufall, dass es diese Frau getroffen hat.» Andernorts wird eine Auseinandersetzung zwischen Täter_innen und Opfer unter dem Schlagwort «Restorative Justice» (wiederherstellende Gerechtigkeit) gefördert. In Österreich ist ein solcher Umgang mit Straftaten noch wenig entwickelt. Eine Auseinandersetzung mit der Tat erfolgt oft gar nicht, auch wenn Bewährungs- und Haftentlassenenhilfe vielfältige Unterstützung anbieten.

Wieder zu Hause.

Regelmäßige Termine bei der Bewährungshelferin, der Psychologin, der Psychiaterin, wöchentliche Blut- und Harnproben – R.s Bewährungsauflagen sind umfangreich. Am meisten Spaß mache die Ergotherapie. Dort arbeitet Michelle R. an Brandmalereien. Stolz zeigt sie eines ihrer Werke: eine rote Tischplatte, in deren Mitte das Logo der Austria Wien prangt. Sie stellt es zurück, in die Ecke neben das Fenster. Am sonnenbeleuchteten Fensterbrett sitzt ein leicht zusammengesunkener Plüschpanda auf einem schiefen Stapel von Verpackungen, alten Zeitungen und Säcken voller Klopapier. Am vierspurigen Gürtel rauscht der Verkehr vorbei, pausenlos. Wir sind in Michelle R.s erster eigenen Wohnung. Ein Wohnschlafraum mit Küchenzeile. Zwar läuft das Ganze noch über die Haftentlassenenhilfe, die Betreuung aber ist minimal. «Jetzt ist er komplett überdreht», kommentiert sie den durchs Zimmer stürmenden Sifu. Der kleine Hund ist seit ein paar Monaten Teil von R.s Leben. Sie hat den zehn Monate alten Japan Chin aus dem Tierheim geholt. Um ihn herum strukturiert sich ein guter Teil des Tagesablaufs, der sich corona­bedingt viel zu Hause abspielt. «Zu Hause» ist ein eher neues Konzept in R.s
Leben. Seit neun Monaten ist sie jetzt unter Auflagen frei. Aus den zwölf Jahren Haftstrafe waren 18 Jahre im Maßnahmenvollzug geworden.

Halt in schwierigen Zeiten.

Easy läuft es auch in Freiheit nicht immer. Es gibt Pro­bleme mit dem Verein, über den Michelle R. die Wohnung mietet. Über der Eingangstür frisst sich der Schimmel in die Wand. Die Toilette am Gang sieht, in Michelle R.s Worten, aus «wie Sau». Der Klotürschlüssel ist abgebrochen, weshalb eine Kombizange braucht, wer sich Erleichterung verschaffen will. Tiefpunkt war kürzlich ein Kabelbrand. Beschwerden bei der Hausverwaltung führten zu nichts. Irgendwann hat Michelle mit der Baupolizei gedroht. Jetzt droht ihr der Rausschmiss. Dabei ist es für Haftentlassene alles andere als einfach, eine Wohnung zu finden, noch schwieriger ist es mit Hund. Zum Glück ist R.s Bewährungshelferin sehr unterstützend, auf ihre Initiative hin gibt es noch einmal Gespräche mit den Vermieter_innen. Die Sozialarbeiterin von Neustart war Michelle R. schon oft eine Stütze in schwierigen Lebenslagen.
Halt gibt aber auch eine neue Beziehung. Der Kontakt mit Michelle R.s Ehemann im Gefängnis ist stabil. Die Fahrten zum Besuch im Gefängnis Krems-Stein bei Oliver R. sind ihr aber häufig zu anstrengend. Das Leben draußen bringt neue Freiheiten, eine davon ist die neue Freundin. Durch sie fand Michelle R. auch eine neue Familie. Die Eltern der Freundin haben auch den aufgeweckten Sifu schon in ihr Herz geschlossen, erzählt sie, während das Hündchen einem rosa Kaninchen die Watte aus dem aufgerissenen Stoff­körper zieht.
Neben Sifu klebt ein Schriftzug am Boden: «Abwurflinie». Dart ist R.s große Leidenschaft. Jeden Abend stellt sie den Laptop auf ein Regal, die Webcam auf ihre Wurfscheibe an der Wand gerichtet. Über das Internet fordert sie ihre Gegner_innen zum Duell. Solange der Dartclub wegen Corona geschlossen ist, muss sie auf diese Art im Training bleiben. «Die besten Pfeilschäfte bestehen größtenteils aus Tungsten.» Schmal und kurz seien die, aber mit ausreichend Gewicht, fachsimpelt R. und zupft den Kragen des Vereins­trikots zurecht. Dann hält sie den Atem an und setzt zum Wurf an. Etwas unzufrieden mit dem Wurfergebnis, schüttelt sie sich das Haar aus der Stirn. Wo 2017 noch brustlanges, glattes Haar fiel, trägt Michelle R. es heute kürzer, maximal bis über die Ohren. Derzeit sei sie «eher so neutral» unterwegs, sagt sie. Die früher stets sauber rasierte Oberlippe schmückt jetzt ein leicht zerzauster Bart, genauso wie das Kinn. «Ihre Lebensweise» rückt in der Hintergrund. Einmal mehr führt R. vor Augen, wie dynamisch Geschlechterentwürfe sein können.

Gewalt verlernen.

In den ersten zehn Jahren in Haft sei das Betreuungsangebot überschaubar gewesen. «Ab und zu reden s’ mit dir», sagt R. und meint damit Drogentherapien, Gruppen- oder Einzelsitzungen. Über die Jahre hat sie verschiedenste Gefängnisse kennengelernt. Aber vermutlich schon davor hat sie gelernt, sich durchzusetzen, wenn nötig mit Gewalt. «Was wollt ihr mir tun? Ich bin eh schon eingesperrt», erinnert sich R. daran, wie sie furchtlos wurde. «Deswegen hab ich drinnen gut gelebt.» Geholfen hätten natürlich auch die richtigen Verbündeten. Lange gab es für sie kein Draußen. «Ich hab nicht einmal drüber nachgedacht, dass ich eingesperrt bin. Ich habe ja alles gehabt.» – eine Formulierung, die bekannt vorkommt. Unter Anleitung eines Beamten habe sie illegal Handys an Inhaftierte verkauft, später Marihuana. Zur Verteidigung trug sie ein angeschärftes Stück Plexiglas bei sich, «das scheint im Metalldetektor nicht auf».
Mit Gewalt hinter Gittern war nicht nur Michelle R. konfrontiert. Eine Studie des Instituts für angewandte Rechts- und Kriminalsoziologie der Uni Innsbruck kommt zum Schluss, dass 72 Prozent der befragten Inhaftierten mindestens einmal Opfer von Gewalt hinter Gittern wurden, weit mehr als die Hälfte davon Opfer körperlicher Gewalt. Im Jugendstrafvollzug liegen die Zahlen deutlich höher. Neben der Gewalt ist Sucht ein großes Problem im Gefängnis. Von Tabletten über Substitol bis hin zu Methadon hat auch R. alles durchgemacht. Geblieben sind ihr zwei Narben von Stichwunden, als Zeugnis einer gewaltvollen Vergangenheit. Geblieben sind aber auch seelische Narben, die Angst vor Kontrollverlust: «Wenn ich mit meiner Freundin unterwegs bin und es geht wer gegen sie – den holt die Rettung mit Blaulicht. Das ist meine Angst.» Bis zum Jahr 2030 ist R. auf Bewährung. Eine Schlägerei, und sie landet wieder im Gefängnis. Gewalt sei schon lange Thema in ihrer Therapie, und es bewege sich auch was. In Haft erlernte Überlebensstrategien lassen sich aber nur mühevoll verlernen. Bekommt man also Michelle R. aus dem Gefängnis raus, nicht aber das Gefängnis aus R.? «Wichtig sind ein stabiles Umfeld, eine Wohnung, Mindestsicherung oder AMS-Geld oder, noch besser, eine Arbeit», meint Friedrich Olejak. Insbesondere dieses unterstützende Umfeld konnte für R. schon viele Probleme abwenden.

Es geht weiter.

Inzwischen ist es Frühling. Die von Schimmel befallene Wohnung konnte R. dank der Unterstützung durch ihre Bewährungshelferin hinter sich lassen und in eine ruhigere Umgebung ziehen. In den neuen vier Wänden lässt sie sich, während sie ihre Dartscheibe zurechtrückt, hinreißen und sagt: «Heute beeinflusst mich das Gefängnis überhaupt nicht mehr», um im nächsten Satz zu erzählen, dass sie gelegentlich sogar noch mit ihrem Psychologen aus dem Endvollzug der Haftanstalt Asten telefoniert. «Passt eh alles», sagt sie dann zu ihm. Heute ist sie kurz angebunden, weil sie gerade auf dem Weg zu ihrer Mutter ist. Die besucht sie mittlerweile nämlich wieder regelmäßig.

Der Autor hat Michelle R. 2017 bei ihrer Hochzeit mit Oliver R. kennen­gelernt. Seit vier Jahren sind sie lose in Kontakt, haben sich bei Freigängen gelegentlich und schließlich im Winter 2020 und Frühjahr 2021 intensiver getroffen.

Interview mit Andreas Zembaty vom Verein NEUSTART:

Herr Zembaty, was macht der Verein NEUSTART?
Wir sind der größte Partner der Justiz im Bereich der Straffälligenhilfe. Unser Angebot ist breit, vielen individuellen Schicksalen angepasst. Obwohl die Resozialisierung zentrales Ziel des Strafvollzugs ist, kommt der Straffälligenhilfe nur ein Zehntel des jährlichen Budgets des Strafvollzugs zu. Mindestens genauso wichtig aber ist die resozialisierende Arbeit vieler Bürgerinnen und Bürger. Abseits von Institutionen gibt es unzählige Unterstützungsmaßnahmen, wie Besuche in Haft, Briefkontakte und Projekte, die oft sehr stark an der Person der Inhaftierten orientiert sind. Ohne diese Menschen könnten staatliche Institutionen wenig ausrichten.
Kann das Gefängnis resozialisieren?
Wer nach einigen Jahren aus der Haft kommt, hat nichts Hilfreiches dazugelernt. Das Einzige, das man gelernt hat, ist die Anpassung an die Bedingungen des Strafvollzugs, aber das hat nichts mit dem wahren Leben draußen zu tun. Deswegen sind Menschen, die an sich gar nicht gefährlich waren, sondern oft eine Kurzschlusshandlung gesetzt haben, nach dem Strafvollzug gefährlicher als vorher. Im Gefängnis wird nicht resozialisiert, sondern oft desozialisiert. Bis heute hat man es nicht geschafft, den Strafvollzug quasi als «Bildungsinstitution» aufzubauen.
Welche Rolle kann Arbeit bei der Wiedereingliederung leisten?
Die Arbeit Inhaftierter stützt derzeit vor allem den Strafvollzug als Institution, zur Kosteneinsparung. Sie befähigt jedoch nicht die Insassen, in Freiheit einen Job zu bekommen. Dabei hätte eine Kooperation von Haftanstalten mit Institutionen wie dem AMS, der Wirtschaftskammer oder der Gewerkschaft sicher ganz großes Potential.
Können sich Täter_innen in Haft bei den Opfern entschuldigen?
Für viele Täter und Täterinnen selbst ist die Straftat auch ein Schock. Daher braucht es gleich am Beginn einer Strafhaft eine Konfrontation mit der Tat, sonst besteht die Gefahr der Verdrängung. Die Ursachen für das Fehlverhalten müssen angegangen werden: Welche Hoffnungslosigkeit hat es in Ihrem Leben gegeben, warum haben Sie nicht mehr weitergewusst, warum haben Sie dann so gehandelt? Wie wollen Sie Ihr Leben ändern, damit es zu keinem Rückfall mehr kommt? Das sind die Fragen, auf die man im Strafvollzug Antworten finden muss. Eine Entschuldigung des Täters beim Opfer ist dabei nicht prinzipiell ausgeschlossen. Es gibt aber rigide Regeln, die vom Sicherheitsdenken des Strafvollzugs geprägt sind, die die Wiedergutmachung behindern. Die Auseinandersetzung mit der Tat ist wichtig! Eine solche differenzierte Erfahrung ermöglicht nach der Haftentlassung auch einen Umgang, der Selbstwertgefühl und Perspektiven aufzeigt. Und das braucht man, um nicht wieder straf­fällig zu werden.

Andreas Zembaty ist diplomierter Sozialarbeiter, Psychotherapeut und Sprecher des Vereins NEUSTART in Wien.