Migrationsgrund: Sparpakettun & lassen

Nach Wien migrieren, den Regen aushalten und sich politisch organisieren

Viele gut ausgebildete Leute verlassen Südeuropa, das von der Austeritätspolitik gebeutelt wird, um anderswo ihr (Arbeits-)Glück zu versuchen. Ein paar von ihnen verschlägt es nach Wien. Wir haben mit vier Aktivist_innen des «Precarity Office Vienna» gesprochen, die aus Barcelona und Athen hierhergezogen sind. Sie erzählen von den Beweggründen, die Stadt zu wechseln, und darüber, wie sich das Ankommen gestaltet. Und auch davon, wie die Welt intelligenter zu organisieren wäre.

Foto: Carolina Frank

«Rettungspackerl nach Regierungsgschmackerl» steht auf dem Schild, das der berühmte Wiener «Nimm ein Sackerl für dein Gackerl»-Hund im Maul trägt. Der Aufkleber ist gezeichnet mit «Juventud sin Futuro», dem Namen einer spanischen Jugendbewegung, die auch im Exil aktiv ist – er bedeutet «Jugend ohne Zukunft»; das klingt ziemlich nach Punk. In Wirklichkeit ist es aber: ziemlich prekär.

Eine Jugend, die keine Möglichkeiten sieht, ihre Zukunft aktiv zu gestalten, geht woandershin. «In jeder Familie gibt es heute jemanden, der oder die gegangen ist oder gerade geht; das ist furchtbar für die spanische Gesellschaft», sagt Pablo Torija. «Die Regierung behauptet weiterhin, dass die jungen Leute gehen, weil sie Abenteuer suchen, und dann wieder zurückkommen. Aber die Wahrheit ist, sie können keinen Job finden, sie haben studiert, sprechen mehrere Sprachen, sind super ausgebildet, und es werden ihnen keine Chancen geboten», bestätigt Raquel López. «Wobei man fairerweise dazusagen muss: im Ausland auch nicht.»

Wir gehen nicht, wir werden rausgeschmissen

In Griechenland sieht es laut Kat Anastasiou und Efi Papapavlou nicht anders aus. «Die ersten zwei Krisenjahre lang waren die Menschen noch geschockt. Das politische Klima war instabil, bis zu den regulären Wahlen 2012 bestand die Hoffnung, dass sich etwas ändern würde. Die sozialen Bewegungen waren auf der Straße, es gab Massendemonstrationen wie in Spanien, Leute, die monatelang vor dem Parlament demonstriert haben. Aber dann kamen die gleichen zwei Parteien in die Regierung, die für die Krise verantwortlich waren. Ab dem Zeitpunkt haben die Leute sukzessive ihre Hoffnung verloren. Man darf nicht unterschätzen, wie wichtig die Psychologie der Menschen ist und wie sehr sie die Migration beeinflusst: Wenn du weißt, es ist hoffnungslos, haust du halt ab.»

Der Slogan der Spanier_innen ist denn auch: «No nos vamos, nos echan» – «Wir gehen nicht, wir werden rausgeschmissen.» Auf der persönlichen Ebene ist das mehr oder weniger ein Drama, findet Pablo, denn die sozialen Beziehungen leiden unter der unfreiwilligen Distanz. Und ökonomisch völlig unsinnig, fügt er – der Ökonom – hinzu, weil die Menschen Steuern zahlen, mit denen das Bildungssystem finanziert wird, und die, die da ausgebildet werden, haben keine Chance, ihr Wissen in die Gesellschaft zu investieren.

Wobei das mit dem ausfinanzierten Bildungssystem ohnehin eines der gröberen Probleme Spaniens ist. Pablo Torija selbst hat sich für ein Masterstudium in Kopenhagen entschieden, weil er es sich in Spanien nicht leisten hätte können. Nach Wien hat ihn die Liebe verschlagen, nicht die Krise. Manchmal hat er schon darüber nachgedacht, wieder einmal nach Spanien zu ziehen – eine Option, die es ob des desaströsen Arbeitsmarkts realiter aber nicht gibt.

Pablo Torija arbeitet als Ökonom an der Universität. Raquel López unterrichtet Spanisch und Katalanisch und jobbt in einem Hotel. Kat Anastasiou ist Bibliothekarin, und Efi Papapavlou macht ihr Doktorat in Biochemie. In Wien leben sie seit zwei bis elf Jahren. Ihre Gründe, die Stadt zu wechseln, waren unterschiedlich. Auch ihre Pläne, zu bleiben oder wo anders hinzuziehen, sind nicht dieselben. Aber in ihrer Analyse, warum so viele Leute aus Südeuropa Richtung Norden ziehen, was sie dort erwarten und was sie dort erwartet, sind sie sich ziemlich einig.

Die Sparpakete denen, die sie schnüren

Raquel und Pablo sind in der Gruppe «Marea Granate» organisiert, einer Schwesterorganisation von «Juventud sin Futuro», die sich der Stärkung und der politischen Organisierung im Exil widmet. Marea heißt Flut und steht für die wachsenden sozialen Bewegungen in Spanien. Granate, Weinrot, ist die Farbe des Reisepasses.

Die Gruppe, in der Efi und Kat aktiv sind, nennt sich programmatisch «Solidarity for all». Das ist vor allem ein Zusammenhang von Menschen, die sich anders mit der Krise in Griechenland beschäftigen möchten, als die Mainstreammedien es tun. «Wir wollen uns der Massenpropaganda über die faulen Griechen widersetzen, die nichts gearbeitet haben und jetzt halt Schulden zurückzahlen sollen», sagt Efi. «Außerdem», fügt Kat hinzu, «gibt es eine Menge an Nachrichten, die unterschlagen werden.» Wenn Griechenland am Cover einer Tageszeitung prangt, geht es meistens um die EZB, um Verspekulierungen öffentlicher Gelder, um Troika-Direktiven und fast nie darum, wie es den Leuten mit der Sparpolitik geht, wie sie sich dagegen wehren und in welcher Verantwortung Resteuropa steht. Das, findet Kat, habe nämlich ganz schön versagt, als mit der «Goldenen Morgenröte» die radikale Rechte ihren Höhenflug erlebte. «Ich glaube nicht, dass Griechenland fähig ist, das alles alleine zu überwinden: ökonomisch unabhängig zu sein und gleichzeitig weltoffen zu bleiben, dazu braucht es europäische Solidarität.»

Was in der Medienöffentlichkeit auch verschwiegen wird: Die Selbstmordrate ist in Griechenland massiv gestiegen. Kat erzählt von einer Frau, die ihren letzten Kaffee mit ihrer Armbanduhr zahlt und sich mit einem Sprung aus dem Fenster umbringt. Oder von einem Mann, der seine pflegebedürftige Mutter und sich selbst tötet, weil er – mit fünfundfünfzig lohnarbeitslos geworden – keine Möglichkeit mehr sieht, das Leben lebenswert zu organisieren. « Solche Menschen sind nicht Opfer der Krise, sondern der Austeritätspolitik.»

Raquel hält den Krisenbegriff überhaupt für eine Verfälschung der Tatsachen: «Ich würde es nicht Krise nennen, sondern Systemwechsel», sagt sie. «Alles wird privatisiert, ein paar wenige teilen sich die Kuchenstücke auf; die Welt, in der unsere Eltern gelebt haben, gibt es so nicht mehr. Ich bin nicht sehr optimistisch.»

Wie haben sie diese «Krise» – beziehungsweise den massiven Rückbau der staatlichen Versorgungsleistungen – erlebt? «Für mich kam es langsam», sagt Raquel. «Erst wurde mein Job nicht verlängert, die Projektgelder waren aus. Dann fing es an, dass Freund_innen ihre Arbeit zu verloren. Ich hatte plötzlich Bekannte, die zwei, drei Jahre lang aussichtslos auf Jobsuche waren.» Pablo meint, dass nicht nur «Krise» das falsche Wort sei, sondern auch «Einsparungen»: «Es geht ja nicht unbedingt darum, Geld einzusparen, sondern vor allem darum, alles in die Hände von wenigen zu schieben.» Spanien, sagt er, war schon vor der Krise kein Wohlfahrtsstaat. «Die Sozialdemokratie hat damit begonnen: Wir mindern die Steuern, also zahlt ihr weniger, dafür gibt’s auch weniger Service. Sprich, die Leute mit geringem Einkommen leiden darunter. Das hat eine lange Geschichte.» Was braucht die spanische Gesellschaft, um sich zu erholen? «Die Wirtschaft darf nicht über Sparpakete saniert werden, weil das ohnehin nicht funktioniert. Wir müssen eventuell die Steuern der Reichern erhöhen; das Bildungssystem wieder ausfinanzieren», zählt Pablo auf, und er ist ein kleines bisschen zuversichtlich: «Man wird es bei den nächsten Wahlen sehen.»

In Griechenland, findet Efi, kam die Krise ratzfatz. «Es hat mit Sparpaketen und Massenentlassungen begonnen. Und dann sind die Steuern gestiegen: Man musste zahlen, hatte keine Arbeit, und der Sozialstaat wurde abgebaut. Das ging ganz schnell.» «Die traditionelle griechische Familienkultur mag aus österreichischer Sicht erdrückend sein», sagt Kat, «aber man hat zumindest keine alten Leute beim Betteln gesehen; heute sind die Pensionen nicht höher als 200 oder 300 Euro, und in Athen siehst du alte, kranke Leute, die im Müll nach Essen suchen.» Dabei sei das starke soziale Netz, das auf Verwandtschaftsverhältnissen aufbaut, Segen und Fluch zugleich. «Manchmal denke ich, wegen der Familie haben wir noch keine Revolution gestartet», seufzt Raquel.

Sich gegen das strukturelle Pech wehren

Es gibt eine Fernsehsendung, die Spanier_innen im Ausland porträtiert. Erfolgreiche, versteht sich. Die habe sich so stark im Bewusstsein eingenistet, dass Mittel- und Nordeuropa tatsächlich als Verheißung gelten, meint Pablo. «Die Leute, die in die Emigration gehen, glauben an diese Fernsehsendung, aber die Realität ist ganz anders.»

Raquel findet es in Wien – selbst wenn sie zum Thema schlechtes Wetter beide Augen zudrückt – auch nicht immer einfach. «Es ist nicht alles nur schön», sagt sie knapp. «Natürlich lernst du viel, aber es gibt sehr harte Momente, und ich finde es vor allem für Frauen mit migrantischer Geschichte sehr schwer, einen adäquaten Job zu finden. Du schickst deinen Lebenslauf herum, es gibt entweder keine Antwort oder Ablehnungen. Du fängst an, dich selber abzuwerten, du nimmst Jobs an, die du nie annehmen wolltest.»

Ein Lerneffekt, den Raquel in der Krise immerhin sieht, ist, «dass man zu verstehen beginnt, dass das «Pech» nichts Individuelles ist, sondern etwas Strukturelles». Um sich gegenseitig zu stärken und politisch arbeiten zu können, haben Efi, Pablo, Kat und Raquel mit vielen anderen das «Precarity Office Vienna» gegründet. Gemeinsam mit der Wiener Gruppe «Prekär Café» machen sie monatliche Treffen zur gegenseitigen Beratung über Aufenthaltstitel, Arbeitsrecht und das Leben im Exil, zusätzlich werden Abendveranstaltungen organisiert. Beratung und Veranstaltungen sind öffentlich zugänglich, am Bekanntheitsgrad wird noch gearbeitet: «Vielleicht kommen ja mehr Leute, wenn sie diesen Artikel lesen!», meint Raquel dann doch wieder optimistisch. Die Treffen finden jeden ersten Dienstag im Monat ab 18 Uhr in der Wipplingerstraße 23, 1010 Wien statt.