Gleiches Recht für alle?
Noch weniger vom mindesten – das scheint der aktuelle Tenor, wenn es um Sozialleistungen geht. Auch die Mindestsicherung entkommt dem nicht, und eine bundesweite einheitliche Mindestsicherung gibt es nicht. Welche juristischen Fakten es gibt und wie die Lage verbessert werden könnte, weiß Martin Hiesel, der als Jurist in der Volksanwaltschaft tätig ist.
Mit 1. Jänner 2017 hat die Vereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern über eine bundesweite Bedarfsorientierte Mindestsicherung ihre Geltung verloren. Ihr Ziel, österreichweit einheitliche Mindeststandards zu garantieren, ist somit nicht mehr erreichbar, obwohl weiterhin ein entsprechendes Bedürfnis vorhanden ist.
Vor diesem Hintergrund will dieser Beitrag aufzeigen, welche Möglichkeiten zur Durchsetzung einheitlicher Mindeststandards in der Mindestsicherung existieren und inwieweit dem Verfassungsrecht Einschränkungen des Gestaltungsspielraums der Bundesländer entnommen werden können.
1. Rechtliche Möglichkeiten zur Durchsetzung einheitlicher Mindeststandards
Auf den ersten Blick mag es bedauerlich erscheinen, dass es keine Vereinbarung über eine bundesweite Bedarfsorientierte Mindestsicherung mehr gibt. Allerdings stellt sich die Frage, ob eine solche Vereinbarung überhaupt ein taugliches Mittel ist, um bundesweit einheitliche Mindeststandards zu sichern.
Dazu ist zu bedenken, dass derartige Vereinbarungen keine Rechte der hilfebedürftigen Menschen begründen können. Die Landesgesetzgeber_innen sind völlig frei, die Vereinbarung umzusetzen oder nicht. Damit ist die Bedeutung derartiger Vereinbarungen stark relativiert. Und ehrlich gesagt ist eine Rechtslage, der zufolge die Landtage praktisch zeitlich unbegrenzt und gänzlich sanktionslos gegen eine für das Land als Vertragspartei verbindliche Vereinbarung verstoßen können, für jeden hilfebedürftigen Menschen eine echte Zumutung. Sie ist zudem höchst ungerecht, zumal sich Mindestsicherungsbezieher_innen für jede noch so kleine Meldepflichtverletzung (potenziell auch verwaltungsstrafrechtlich!) verantworten müssen, während ein Land sich über die von ihm (freiwillig!) übernommenen Verpflichtungen völlig sanktionslos hinwegsetzen kann.
Vor diesem Hintergrund ist es der ehrlichere Weg, wenn Länder offen sagen, dass sie nicht bereit sind, einer neuen Vereinbarung beizutreten. Ist es nicht besser, gleich zu sagen, dass man bestimmte Vorgaben nicht umsetzen will, als eine Vereinbarung zu unterzeichnen und sie dann nicht einzuhalten?
Es gäbe aber eine andere Möglichkeit, einheitliche Mindeststandards zu sichern: Der Bund kann nämlich von der Grundsatzgesetzgebungskompetenz im Bereich des «Armenwesens» Gebrauch machen. Da die Landesgesetzgeber_innen grundsatzgesetzliche Vorgaben beachten müssen, könnten den Landesgesetzgeber_innen solcherart verbindliche Vorgaben betreffend österreichweit einheitliche Mindeststandards gemacht werden. Die Erlassung eines Grundsatzgesetzes wäre somit eine sinnvolle Möglichkeit, mit dem die Bundesgesetzgebung ihre Verantwortung wahrnehmen könnte.
2. Verfassungsrechtliche Vorgaben in der Bedarfsorientierten Mindestsicherung
Leistungskürzungen. In einigen Bundesländern ist es zu gesetzlich verfügten Leistungskürzungen gekommen. Hier stellt sich die Frage nach verfassungsrechtlichen Grenzen.
Der Verfassungsgerichtshof hat in Bezug auf die Höhe der Mindeststandards betont, dass es den Gesetzgeber_innen verwehrt ist, Regelungen zu treffen, für die eine sachliche Rechtfertigung nicht besteht:
«Ist in einem vom Gesetzgeber eingerichteten System der Sicherung zur Gewährung eines zu einem menschenwürdigen Leben erforderlichen Mindeststandards der Zweck, dem betroffenen Personenkreis das Existenzminimum zu gewähren, nicht mehr gewährleistet, dann verfehlt ein solches Sicherungssystem … seine Aufgabenstellung. Ein solcher Fall liegt vor, wenn … eine plötzliche Kürzung der Mindestsicherung um 20vH [20 %] vorgenommen wird.»
Mit diesen Ausführungen ist klargestellt, dass Kürzungen der Mindestsicherung einer sachlichen Rechtfertigung bedürfen. Leider geht der Verfassungsgerichtshof aber davon aus, dass den Ländern diesbezüglich ein weiter Ermessensspielraum zukommt. So wurde eine Gesetzesbestimmung, der zufolge subsidiär Schutzberechtigte keinen Anspruch auf Mindestsicherung mehr geltend machen können, als verfassungskonform erachtet.
Deckelungen. Ist es zulässig, die Mindestsicherung unabhängig von der Zahl der Haushaltsmitglieder mit einem Höchstbetrag zu deckeln?
Nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofes ist es «sachlich nicht zu rechtfertigen, die richtsatzmäßigen Geldleistungen für eine Haushaltsgemeinschaft ab dem dritten Haushaltsangehörigen abrupt zu kürzen». Daraus ist zu folgern, dass eine an die Zahl der Haushaltsangehörigen anknüpfende fixe Deckelung von Geldleistungen verfassungswidrig sein kann. Die Gesetzgeber_innen sind allerdings frei, Geld- durch adäquate Sachleistungen zu ersetzen und für kinderreiche Familien auch pauschalierende Regelungen zu treffen.
Wartefristen. Neu sind gesetzliche Regelungen, die darauf hinauslaufen, dass Menschen Mindestsicherung erst dann erhalten, wenn sie ihren Wohnsitz für einen gewissen Zeitraum in dem Bundesland gehabt haben, in dem sie den Antrag auf Leistungsgewährung stellen.
Indes darf jeder und jede Staatsbürger_in an jedem Ort des Staatsgebietes ihren oder seinen Aufenthalt und Wohnsitz nehmen. Dieses Recht verbietet jeden intentionalen Grundrechtseingriff. Eine Wartefrist verfolgt nun aber gerade die Intention, sozial bedürftige Menschen, die zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes auf die Gewährung der Mindestsicherung angewiesen sind, daran zu hindern, ihren Wohnsitz in ein anderes Bundesland zu verlagern. Damit wird der Kern dieses Grundrechts verletzt, der Staatsbürger_innen die Möglichkeit sichert, sich ein Bundesland ihrer Wahl als Wohnsitzort auszuwählen, während die Bundesländer kein Recht haben, sich ihre Landesbürger_innen selbst auszusuchen.
3. Abschließende Bemerkung
Es bleibt zu hoffen, dass die Gesetzgeber_innen sich ihrer hohen sozialpolitischen Verantwortung bewusst sind und die erforderlichen, bei einer Betrachtung der einschlägigen Gesamtbudgets durchaus aufzubringenden, finanziellen Mittel dafür bereitstellen, dass allen Hilfsbedürftigen die Möglichkeit zu einem menschenwürdigen Leben gegeben wird.
Kooperation: Autor_innen der Zeitschrift «juridikum. Zeitschrift für Kritik – Recht – Gesellschaft» bereiten aktuelle Rechtsfragen für den Augustin auf. Die Langversion dieses hier adaptierten Textes ist in der aktuellen Ausgabe des «juridikum» zu
lesen. Das «juridikum» gibt’s viermal im Jahr – die Nullnummer erschien 1989. www.juridikum.at