Mit dem Satz gegen den Zeitgeist verschworenArtistin

Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus, Teil 3

Kraus und die Sprache II

Die Besonnenheit, die es verbietet, in einem Satz zu weit sich vorzuwagen, ist meist nur Agent der gesellschaftlichen Kontrolle und damit der Verdummung.

Theodor W. Adorno

Meinungen, Richtungen, Weltanschauungen es kommt doch zuerst und zuletzt auf nichts anderes an als auf den Satz. Die ihn nicht können, fangen beim Lebensinhalt an, welchen sie infolgedessen nicht haben und welcher da ist, wenn der Satz gelingt.

Karl Kraus

Je weniger Sprache man hat, desto mehr muss man sie neu erschaffen. Ein schlechtes Gedächtnis, veredelt durch die spezielle Unfähigkeit, sich Redewendungen oder Floskeln zu merken, die schnellem sozialen Einverständnis dienen, ist der beste Passierschein ins Königinnenreich der Sprache. Die Sprache hat in Wahrheit der, der nicht das Wort, sondern nur den Schimmer hat, aus dem das Wort ersehnt, erlöst und empfängt.

Bei aller Verachtung mag Karl Kraus die Journalisten mitunter beneidet haben, mit welch skrupelloser Nonchalance sie ihre Texte produzierten, pardoniert durchs Diktat des Redaktionsschlusses, während er qualvoll stunden-, manchmal tagelang an einem Satz feilte, mit einer Wendung haderte, nach der optimalen Übereinstimmung von Rhythmus, Klangfarbe und Wahrhaftigkeit des Stils suchte, sich dabei mit eigenen Worten an der Sprachwand den Kopf blutig schlug, bis zur Drucklegung fortwährend korrigierte; und dann die Verzweiflung, wenn die Druckpresse schon rattert und die Presswalze dem Papier, versteckt zwischen den Konzentraten gedanklicher Anstrengung, da den überflüssigen Beistrich, dort die gelungene Metapher aufprägt, für die er in der Zwischenzeit eine bessere gefunden hat. Eine Verzweiflung, die sich nur durch die Lust des nächsten nächtlichen Schöpfungsaktes kurieren ließ.

Ich arbeite Tage und Nächte. So bleibt mir viel freie Zeit. Um ein Bild im Zimmer zu fragen, wie ihm die Arbeit gefällt, um die Uhr zu fragen, ob sie müde ist, und die Nacht, wie sie geschlafen hat.

Hoher und niederer Ton

Ist die Sprache schon der Urgrund der Gedanken, aus dem der Künstler schöpft, oder nur das Material, mit dem er schöpferisch ist? Beides. Der Gedanke ist in der Welt, aber man hat ihn nicht. Er ist durch das Prisma stofflichen Erlebens in Sprachelemente zerstreut: Der Künstler schließt sie zum Gedanken.

Was aber ist gute Sprache? Was macht guten Stil aus? Karl Kraus beantwortet diese Frage Zeit seines Lebens durch satirische Kritik schlechter Sprache, positiv durch die Qualität seiner Kritik. Sein Sprachverständnis entzieht sich nicht nur jeder Denkschablone, sondern zermalmt diese gleich einer Naturgewalt, wo sie nur wagt, Wirklichkeit ihren Konturen einzupassen.

Gute Sprache ist prinzipiell eine solche, die den Efeu des Dekors schon ausreißt, ehe seine Ranken zu sprießen beginnen, aber auch mit den Klischees von guter Sprache aufräumt, so sie selbst zu Phrasen erstarren. Gute Sprache nach Kraus verläuft also quer zu den gängigen Wertungsachsen. Sie manifestiert sich nicht in der Überlegenheit von Knappheit gegenüber üppigem Stil. Ein manieristischer Stil muss nicht schlecht sein, solange er nicht manieriert ist, und knapper sachlicher Ton kann selbst zu prätentiösem Zierrat verkommen. Schon gar nichts hat sie mit dem Gegensatz von hohem und niederem Ton zu schaffen, ein Gegensatz, der mehr der sozialen Distinktion als sprachlicher Erkenntnis dient.

Jean Améry überführte in einem Essay Georges Batailles Gebrauch obszöner Sprache als Provokation der Bourgeoisie sehr konzise seiner Lächerlichkeit und und ließ dabei doch die kapriziöse Abscheu des Bildungsbürgers vor jeglicher Derbheit erkennen. Eine Abscheu, die Karl Kraus keinesfalls mit ihm geteilt hätte. Die Gegenüberstellung von sittlicher Verfeinerung und ordinärer Volkssprache ist selbst Ressentiment, Phrase, Denkstillstand. Die Achse zwischen brillant und hundsmiserabel verläuft vertikal durch beide Sphären. Selbst die genitale Zote wäre, solange sie Phantasie, Geist und Frechheit kurzschlösse und niemanden erniedrigte außer den Erniedrigern, dem hohen Ton überlegen.

Von Anglizismen und Jargonwörtern machte Kraus selten, wenn aber, dann auch ohne satirische Absicht Gebrauch und überraschte mit saloppen Begriffen wie ausgepowert, eine kecke Freiheit, die sich sein Vorbild Lichtenberg schon 150 Jahre vor ihm etwa mit superklug geleistet hatte.

Auch gegenüber dem Dialekt hat Kraus keine Berührungsängste. Nur als Ausdruck stumpfen Kollektivbewusstseins missfällt er ihm; für Witz, gestalterische Kraft und Bildhaftigkeit jedoch mag dieser sogar fruchtbarerer Humus als die Hochsprache sein. Das zeigte ihm Johann Nestroy vor, der erste deutsche Satiriker, bei dem sich die Sprache Gedanken macht über die Dinge kein Dialektdichter, sondern ein Avantgardist, dessen Bravour in der Wortneuschöpfung sowie der parodistischen Vermischung von hohem und niederem Ton lag.

Ich vermeide Lokalismen nicht, schrieb Kraus, wenn sie einer satirischen Absicht dienen, und: Der Witz, der mit gegebenen Vorstellungen arbeitet und eine geläufige Terminologie voraussetzt, zieht die Sprachgebräuchlichkeit der Sprachrichtigkeit vor, und nichts ist ihm ferner als der Ehrgeiz puristischen Strebens. Es geht um Sprachkunst. Daß es so etwas gibt, spüren fünf unter tausend. Die anderen sehen eine Meinung, an der etwa ein Witz hängt, den man sich bequem ins Knopfloch stecken kann. Von den Geheimnissen organischen Wachstums haben sie keine Ahnung. Sie werten nur das Material. Aber: Nichts ist der Sprache gleichgültiger als das Material, aus dem sie schafft. Kein Material ist ihm zu gering, als dass er ihm nicht Wert verschaffen könnte. Selbst aus der Phrase lassen sich Blüten treiben. Deren totem Sprachkörper haucht er neues Leben ein, indem er ihn entweder satirisch zum Torpedo gegen die Phrasendrescher umrüstet oder durch kreative Verfremdung resozialisiert.

Dabei ist die Phrase, die Floskel, die starre Wendung, die den Menschen von Erfahrung und Phantasie dispensiert, nicht auf Sprache beschränkt, sondern lässt sich metaphorisch auf alle Lebens- und Gesellschaftsbereiche erweitern. Es gibt einen phrasenhaften Habitus, phrasenhaften Tonfall, für Kraus kann sogar ein Bart eine Phrase sein. Manchen Männern nimmt er den Bart als glaubwürdig ab, manchen möchte er ihn am liebsten abnehmen, weil er wie ein pathetisches Dekor aufs Gesicht gepinselt wirkt.

Bei seinen Verehrern, von denen er sich am meisten bedroht fühlte, würde er heute noch fündig, wenn sie etwa bei der Aussprache seines Namens das R ehrfurchtsvoll rollen und den Zwielaut spreizen Kraus machte sich über das gezierte Langziehen der Infinitiva lustig oder wenn sie durch besonders gravitätische Artikulation von Ergriffenheitsepitheta (grooßartig, unnnglaaublich, irrrsinnig toll, geniaaaal) zwar nicht ihr Verständnis, aber ihr kleinliches Bedürfnis nach Großem bekunden.

Unkorrumpierbarkeit und Hingabe zur Sache sind Forderungen an Charakter und sprachlichen Ausdruck, für Kraus Gestalten ein- und desselben Programms. Einem Angeber oder Bluffer kommt er in den winzigsten Nuancen seiner Sprache noch auf die Schliche.

Der gelungene Satz

Seine Integrität, den Widerstand gegen die Verdinglichung der Welt beweist der Autor noch immer am besten mit dem gelungenen Satz. Wann aber ist ein Satz gelungen? Wenn er grammatikalisch richtig ist? Wenn er formschön ist? Sprachgestaltung wäre ein Honiglecken, beschränkte sie sich nur darauf.

Nur wer die Regeln beherrscht, kann die Sprache aus den Klauen ihrer Beherrscher befreien, sie sind Wegmarken des Denkens, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Der gelungene Satz zollt Logik und Grammatik Tribut, verachtet aber Pedanterie zugunsten von Präzision u n d Phantasie. Er vereint analytische Schärfe mit archaischer Bildhaftigkeit der gelungene Satz beschreibt den Wind etwa nicht, sondern lässt diesen durch die Ritzen der Worte heulen und den Rhythmus seines Gefüges anpeitschen.

Er vereint Distanz und Hingabe. Der Satz gelingt, wenn er unter äußerster Mühe leicht gerät, er wirkt bemüht, wenn sichs der Autor zu leicht gemacht hat. Der Schöpfer eines gelungenen Satzes enthält sich des Zierwerks, weil er nichts zu verbergen hat, im Vergleich zu jenen, die in schwelgerischen Adjektiven einbringen, was ihnen die Natur an Hauptworten versagt hat. In jedem seiner Elemente, sogar und gerade in deren Zwischenräumen, ist er geladen mit der Spannung gedanklicher Widersprüche. Der gelungene Satz sperrt sich durch diese Elektrizität dem leichten Konsum und dennoch darf er sich nie vorwerfen lassen, nicht klar und deutlich zu sein. Im gelungenen Satz ist die Bedeutungsvielfalt seiner Worte nicht auf die marktkompatible Eindeutigkeit der Phrase herabwürdigt. Er steht gleichberechtigt neben den anderen Sätzen des Texts, jeder ein mikrokosmisches Abbild des Ganzen. Er ist freies Individuum unter freien Individuen, deren Textganzes auch ohne hierarchische Ordnung des Aufbaus Sinn ergibt in der Sprache verwirklicht der Autor, was die bürgerliche Revolution für den Menschen nicht einlöste.

Der Satz ist letztlich dann gelungen, wenn ihm gelingt, die Trotteln unter den Lesern von den Verständigen zu scheiden. Den Trotteln ist er Signum der Selbstgefälligkeit des Autors (weil er mit ihnen nicht redet), den Verständigen Inbegriff seiner Selbstlosigkeit (weil die Originalität des Satzes dem Erfassten und nicht der eigenen Seherqualität Ehre erweist).

Der gute Stil

Guter Stil ist höchste Intensität der Verdichtung: die unmittelbarste Übertragung eines geistigen Inhalts, eines Gefühlten oder Gedachten, Angeschauten oder Reflektierten, in das Leben der Sprache, als die Gabe, das Erlebnis in der andern Sphäre so zu verdichten, als wäre es ihr eingeboren

Guter Stil sei nicht der Ausdruck dessen (), was einer meint, sondern die Gestaltung dessen, was einer denkt und was er infolgedessen sieht und hört; und Sprache begreife nicht bloß das in sich, was sprechbar ist (), sondern dass in ihr auch alles was nicht gesprochen wird erlebbar ist; dass es in ihr auf das Wort so sehr ankommt, dass noch wichtiger als das Wort das ist, was zwischen den Worten ist. Worte, die das Ineinander ergeben, in welchem Ding und Klang, Idee und Bild nicht ohne einander und nicht voreinander da sein konnten.

Man muß jedes Mal so schreiben, als ob man zum ersten und zum letzten Mal schriebe. So viel sagen, als obs ein Abschied wäre, und so gut, als bestände man ein Debüt.

Die Sprache gibt dem Vieldeutigen, Widersprüchlichen, Nichtidentischen Obdach vor den Sklavenjägern des kategorisierenden Denkens. Karl Kraus, dessen Vernunft nicht ordnet und definiert, sondern liebkost und straft, hat sich freien Zugang zu dieser Arche Noah erarbeitet, auf welcher er die Piratenflagge hisst. Sprache lebt in unmittelbarer Verständigung mit dem durch die Zeit empörten Geist. Hier kann jene Verschwörung zustande kommen, die Kunst ist.

Konzentrierte Wahr- und Wehrhaftigkeit, das ist Kraus Minnedienst an der Sprache. Jene Geschmeidigkeit, mit der der Unbestechliche der Vielgestaltigkeit der Welt, wie sie vielleicht einmal war, nicht ist und sein könnte, und ihrer individuellen Erfahrbarkeit mit jedem Satz, Wort, ja Vokal Gerechtigkeit widerfahren lässt ihre Parzellierung, Drainage, Verdinglichung aber an jenen rächt, deren Geschmeidigkeit von einem extrahierten Rückrat herrührt, an jenen zum Beispiel, die nicht über hundert zählen können und deshalb jedem Tausendfüßler, dessen sie habhaft werden, 900 Beinchen ausreißen müssen.

Kraus hat die Programmatik seines Dienstes an der Sprache am kraftvollsten in den Texten Bei den Tschechen und den Deutschen und Die Wortgestalt dargelegt (in Die Sprache). Man lese diese so oft, bis man meint, sie in all ihren Nuancen verstanden zu haben und freue sich dann an der Ernüchterung, wie viel es in ihnen noch zu verstehen gibt.

Die Antwort auf die Frage, ob Shanghai aufgrund unterlassener Beistriche bombardiert wurde (siehe Augustin, Nr. 174), überlasse ich dem Leser, der Leserin. Sollte es tatsächlich eine sprachliche Verantwortung dafür geben, so haben die letzten beiden Aufsätze hoffentlich gezeigt, dass es mit fehlenden Kommas noch lange nicht getan ist.

Richard Schuberth

Literaturtipp:

Karl Kraus: Die Sprache, Frankfurt a. Main 1987

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