Mit oder ohne Kirchevorstadt

In Wallsee funktioniert im Gegensatz zu vielen anderen Marktgemeinden und Kleinstädten noch die Nahversorgung. Ein Lokalaugenschein samt Erklärungsversuch.

TEXT UND FOTOS: ROBERT SOMMER

Ob man in Wallsee am Marktplatz in zehn Jahren noch Kaiserschmarrn von der Wirtin essen kann, sei keine Frage der Politik, sondern hänge davon ab, ob die Tochter das Wirtshaus weiterführen will. Nie würde die Mutter der nicht zur Nachfolge Entschlossenen einen Strick draus drehen, denn auch sie selber, die leidenschaftlichste Wirtin vom Platz, würde im nächsten Leben lieber als Donauradtouristin (vorausgesetzt, es geht ewig donauabwärts) einen Einkehrschwung in ihren eigenen Landgasthof unternehmen, als noch einmal mit einem One-Night-Touristen darüber streiten, ob ein Gast grundsätzlich und verfassungsgemäß das Recht hat, die exakte Kochzeit des bestellten Frühstückseis zu bestimmen: von 3,5 bis 11 Minuten. Ich übernachte schon die sechste Nacht im Gasthof Sengstbratl, führende Adresse am Marktplatz der Strudengau- und Mostviertelgemeinde Wallsee; ich gelte also als ausreichend eingeführt, um mir zu erlauben, Christa Sengstbratl heftig zu widersprechen. Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Tochter gar nicht lange überlegen muss, ob sie das Wirtshaus und die Zimmervermietung weiterführe, das soll keine politische Fragestellung sein?

Planskizze.

Ich bitte die Wirtin, mir den Marktplatz ans Herz zu legen. Das tut sie, indem sie sich zum Frühstücks­tisch setzt und auf einem Blatt Papier den Platz skizziert. Ausgehend vom Schloss Wallsee am Ende des Platzes (in dem Fall gab ’s kein Nachfolgeproblem; das Schloss gehört heute noch den Habsburgern) kritzelt sie im Uhrzeigersinn die Geschäfte und Einrichtungen, die direkt am Platz oder in dessen unmittelbarster Umgebung liegen, auf ihren Plan.
Christa Sengstbratl geht sehr zügig vor, es scheint, die Liste der Platzfunktionen liege stets abrufbar auf ihren Lippen: «Der Zahnarzt. Der Masseur- und Fußpflegesalon. Die Physiotherapie. Die Trafik. Der Gasthof Grünling. Mit Fremdenzimmern. Eine zweite Physiotherapie. Die Raika-Filiale. Das ADEG-Kaufhaus. Das Restaurant Wallseehof (schönste Aussicht auf das typische Mostviertel-Hügelland). Die «Lebenswelt», ein sozialökonomisches Projekt für Menschen mit Handicaps. Die Sparkasse. Der praktische Arzt, der auch die Funktion des Apothekers in der Ortsmitte erfüllt. Der Nah&Frisch-Supermarkt. Die Tankstelle. Die Ladestation für E-Autos. Das Landgasthaus Sengstbratl (Gastronomie und Übernachtung), das türkische Kebab- und Pizzalokal, Treffpunkt der Jugend. In der Mitte des Platzes das Gemeindeamt mit «Kirchturm», säkularer Ersatz für die fehlenden Kirchen der christlichen Konfessionen im Zentrum Wallsees. Zwei Römermuseen, jeweils um die Ecke. Rätselhafte Markierungen auf den Verkehrsflächen: Sie zeigen den Verlauf der Mauern des Kastells. Um zum Schluss zu kommen: eine Telefonzelle, ein Trinkwasserspender, ein öffentliches WC. Viel Grün, viele Bänke, historische und moderne Skulpturen. Eine Bushaltestelle. Aufzählung ohne Vollständigkeitsgewähr.

Radwanderweg.

Es gibt nicht viele Zentren ländlicher (Markt-)Gemeinden mit 2000 Einwohner_innen, die sich durch eine ähnliche Erlebnisqualität auszeichnen. Natürlich gibt es auch äußere Faktoren, die für die Entwicklung einer Gemeinde förderlich sind und der Gemeindevertretung quasi in den Schoß fallen. Wallsee liegt am frequentiertesten Radwanderweg Österreichs, der Strecke Passau-Wien. Der Plan, den römischen Limes und damit auch den Ort Wallsee, der auf eine römische Befestigungsanlage zurückgeht, in die Liste des Weltkulturerbes aufzunehmen, verspricht einen weiteren Entwicklungsschub. Bürgermeister Johann Bachinger ist deshalb ein Fan dieses Projekts, das schon in die Wege geleitet wäre, wenn es nicht die Corona-Krise gegeben hätte. Doch viele Orte mit ähnlichen Privilegien, unter ihnen auch Stationen am Donauradweg, veröden. Sie veröden zum Teil aus Gründen, die die Bürgermeister_innen selbst verursachen. Sie veröden wegen der Verherrlichung des Autos. Wer, wie in Wallsee, die Qual der Wahl hat, bei ADEG oder bei Nah&Frisch, beide am Hauptplatz, einzukaufen, kann die Autoschlüssel daheim lassen. Dazu Harald Frey, Raumplaner an der Technischen Universität Wien, in einem Vortrag, den ich mitnotiert habe: «Die zunehmenden Entfernungen zwischen Arbeitsstätten und Wohnungen erzeugen neuen Autoverkehr. Das steigende Autoverkehrsaufkommen dient wiederum als Begründung für den Ausbau neuer Verkehrsinfrastruktur. Die Nahversorgung bricht deshalb zusammen, die geschlossenen Rollläden prägen das Bild der Hauptplätze in den Provinzstädten. Die Großmärkte werden zu Zielpunkten des Verkehrssystems. Diese werden am Ortsrand angesiedelt und ziehen durch die Parkplätze Kunden von den Nahversorgungseinrichtungen in einem Umkreis von bis zu 80 Kilometer ab.»
Und was wären die von den Gemeinden selbst verursachten Katastrophen? Frey: «Obwohl die Raumplanung Aufgabe der Bundesländer ist, haben die Gemeinden seit 1969 per Bundesverfassungsgesetz die Planungshoheit in ihrem eigenen Wirkungsbereich. Die Gemeindechefs befinden sich zueinander in einer Konkurrenzsituation: Neuansiedlungen bringen der Gemeinde höhere Kommunalabgaben. Studien aus Deutschland zeigen mittlerweile, dass die Zersiedelung immer weniger als eine Reaktion auf eine Mehrnachfrage an Siedlungsflächen zurückzuführen ist, sondern immer mehr angebotsseitig durch die kurzsichtige Politik der Kommunen erzeugt wird.»

Dilemma.

Wallsee vermeidet diese Fehler; zur Kategorie «Vorreiter-Ort» des Mostviertels fehlt freilich noch einiges. Am Wochenende ist die Gemeinde öffentlich nicht erreichbar; die Busse zu den Bahnhöfen der Westbahnstrecke, Amstetten und St. Valentin, verkehren nur an Werktagen. Dass es im ganzen Ort keinen Radverleih gibt, verdient harsche Kritik. Beim Wandern durch die Umgebung Wallsees verfestigt sich eine Vision in meinem Kopf: Die riesigen Vierkanthöfe, zum Teil 60 Meter lang, zum Teil aus dem 17. Jahrhundert stammend, werden der prekären Situation der bäuerlichen Familien von heute nicht mehr gerecht. Die Region um Wallsee und Ardagger könnte zu einem Open-Air-Laboratorium zur Suche nach neuen, innovativen, architekturrelevanten Nutzungen dieser sanften Riesen werden. «Ich bin ja selber Besitzer eines Vierkanthofes. Ihre Idee gefällt mir gut. Allerdings gibt es ein Flächenwidmungsdilemma», macht mich der Ortschef aufmerksam. Er lädt mich zu einem Treffen zu diesem Thema ein. Ich gebe diese Einladung an Kompetentere weiter: an Architekt_innen, an Baugruppen aus der Stadt, an Menschen, die an nachhaltigen Lebensformen interessiert sind.

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