Mit voller Energie: ­Handlungsspielräume ausweiten!tun & lassen

Üppig hat Dagmar H. nie gelebt, aber meistens gut. Mit der Energiekrise geht ihr die Luft aus – und das Geld (Foto: © Carolina Frank)

Hunderttausende Armutsbetroffene leiden allein in Österreich unter Energiearmut. Dabei gibt es praktikable Vorschläge, was auf politischer Ebene getan werden müsste: zum Beispiel die Einführung einer Energiegrundversorgung.

 

«Ich weiß nicht, wie es weiter gehen soll, wenn der nächste Gaspreis-Schock kommt – und der kommt bestimmt.» Dagmar H. schaut auf ihr halbvolles Kaffeehäferl. Dabei ist die Frau «alles andere als eine klassisch Armutsbetroffene», wie sie zu Beginn des Gesprächs betont. H. ist Mitte sechzig, blickt auf ein bewegtes Leben zurück: Früher arbeitete sie als Angestellte beim Film, dann selbstständig als Kostümbildnerin, als freie Autorin und und und, «alles learning by doing». Sie lebte zwar nicht üppig, aber gut. Vor zehn Jahren merkte sie zum ersten Mal, dass ihr «die Luft ausgeht». Und mit dem Anstieg der Energiekosten vor einem Jahr wurde es bei Dagmar H. finanziell wieder knapp.
Dagmar H. mag keine typische Armutsbetroffene sein – aber so untypisch ist sie dann auch wieder nicht. Klar ist, sie ist eine von vielen Menschen, denen nicht nur «die Luft ausgeht», sondern auf lange Sicht auch das Geld; für den Strom und das Gas, für die Heizung und das Warmwasser. Energiearmut betrifft viele Millionen Menschen in ganz Europa, Tendenz steigend. Die Regierung verspricht eine «Entlastung für alle» und verteilt Einmalzahlungen («Klimabonus») an Arm und Reich gleichermaßen, egal ob ein- oder viertausend Euro monatliches Einkommen. Währenddessen machen sich kluge Köpfe Gedanken über sozial gerechtere Lösungen. Eine Energiegrundversorgung könnte eine solche sein, und die wird mittlerweile europaweit gefordert.

Energie-Unsicherheit …

Einer dieser klugen Köpfe ist Clara Moder. Sie ist Sozioökonomin und Politikwissenschafterin, seit vier Jahren bei arbeit plus beschäftigt. Dieses österreichweite Netzwerk sozialer Institutionen setzt sich für Benachteiligte am Arbeitsmarkt ein. Die Energiekrise sei spätestens seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine stark im öffentlichen Diskurs angekommen, sagt Moder. «Wenn die Energiepreise explodieren, dann macht das was mit Menschen, die finanziell ohnehin schon am Limit sind.» Hohe Energiepreise treiben die Inflation, die wiederum treibt die Mietpreise nach oben. Dies schaffe «massive Unsicherheit» für jene, die nicht rundum abgesichert sind, sagt Moder. Aus Angst vor großen Rückzahlungen würden Menschen vorab versuchen ihren Energieverbrauch einzuschränken. Später mit dem Heizen beginnen, weniger Räume, weniger warm. Dabei stellen die Energiekosten bei armen Haushalten einen ohnehin überproportional großen Anteil des Monatsbudgets dar. Viereinhalb Prozent des Monatsbudgets für Energie auszugeben sei normal, zehn bis fünfzehn Prozent hoch, das sagen Daten der Statistik Austria. Es gäbe aber Haushalte, die über 22 Prozent für Energie ausgeben, und «das ist definitiv zu viel», so Moder.

… und ihre Folgen.

Wie wirkt sich das auf den Alltag armutsbetroffener Menschen aus? «Die tatsächlichen Einsparungen werden dann dort gemacht, wo es einfacher geht: bei der Mobilität, bei den Haustieren, bei der Gesundheit.» Es werde weniger gesundes Essen gekauft, die soziale Teilhabe eingeschränkt. Allein die Verunsicherung in den Köpfen mindert schon die psychische und körperliche Gesundheit, erklärt Clara Moder. In Österreich sind 140.000 Haushalte von Energiearmut betroffen, in ganz Europa wohl mehr als 50 Millionen Menschen. Wie viele das Problem auf psychischer Ebene trifft, ist kaum abschätzbar.
Dagmar H. kennt die Problematik nur zu gut. Die Mutter zweier Söhne bezeichnet sich als «überwiegend Alleinerzieherin». Sie habe immer Vollzeit gearbeitet, «immer gute Jobs gehabt». Sie sei davon ausgegangen, dass sie auch mit ihrer Pension gut über die Runden kommen werde. Fehlanzeige. Heute muss sie neben der Pension noch arbeiten, um etwas dazuzuverdienen. Zweimal die Woche putzt sie in einem Club. Working Poor und Alleinerzieherin, irgendwo dann doch klassisch armutsbetroffen. Da sie in einer Mietwohnung mit Gastherme wohne, habe es sie «natürlich voll getroffen», als die Energiepreise gestiegen sind. Mit dem Energiebonus der Regierung sei es ihr «gerade noch gelungen, nicht in große Geldschwierigkeiten zu kommen», aber viel Spielraum ist da nicht.
Ähnlich ergeht es Walter Huber: «Bei mir in der Wohnung hat es genau 17 Grad. Ich sitze hier mit Thermounterwäsche», berichtet der Mann aus Klosterneuburg am Telefon. Huber ist IT-ler, schaffe es aber aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht mehr, einem geregelten Job nachzugehen. Das Leben mit AMS-Geld machte ihn zum Sparmeister. Auf Reisen verzichte er seit dem Jobverlust zur Gänze, eine Zahnbehandlung sei aufgeschoben, zum Einkauf geht’s in den Sozialmarkt und die Heizung läuft nur auf halb. «Ich trag’ lieber einen Pulli mehr», sagt der 57-Jährige. Stark eingeschränkt habe er auch seine sozialen Aktivitäten, erzählt Walter Huber. Wie so viele trifft auch ihn die «Verunsicherung in den Köpfen», wie sie Clara Moder beschrieben hat.

Grundrecht auf Wärme

Das aber müsste nicht so sein, findet die Wirtschaftswissenschafterin. Gemeinsam mit ­ATTAC und der Armutskonferenz, bei der Moder auch engagiert ist, wurde ein Vorschlag für eine Energiegrundversorgung erarbeitet. «Der Grundbedarf an Energie zum Waschen, Kochen, Heizen und Kühlen soll für alle gedeckt werden, so die Idee» – sehr billig oder gratis. Und anders als bei der Strompreisbremse der Bundesregierung soll – in Wirtschaftssprech – «der Überverbrauch progressiv bepreist» werden. Das bedeutet: Je höher der Verbrauch, desto teurer wird die Kilowattstunde Strom oder das Gas. Denn: «Eine warme Wohnung ist ein Grundrecht, der Whirlpool auf der Dachterrasse ist es nicht.» Aus einer Analyse von Verbraucher:innendaten wird ersichtlich, dass reiche Haushalte rund doppelt so viel Energie verbrauchen wie die ärmeren.
Eine Grundversorgung mit Energie könnte Armutsbetroffenen den Druck nehmen und ihre Handlungsspielräume ausweiten. «Am Wochenende mal aus der Stadt rausfahren, kleine Geldbeträge für sich selber ausgeben können und insgesamt die soziale Teilhabe erhöhen.» Armut ist nicht nur ein Mangel an finanziellen Ressourcen, sondern auch an Möglichkeiten, so Moder.

Right to Energy

Auch Dagmar H. versucht Handlungsspielräume auszuweiten, für sich selbst und andere. Sie engagiert sich in der Lebensmittelrettung, holt aussortierte Nahrungsmittel von Supermärkten ab und verteilt sie weiter. Außerdem besucht sie Kleidertausch-Partys. «So versuchen wir uns halt gegenseitig weiterzuhelfen.» Wiederum nichts, was dem gängigen Bild armutsbetroffener Menschen entsprechen würde: die Selbstorganisierung von unten.
Weil die Politik von oben aber nicht aus ihrer Pflicht entlassen werden soll, haben sich Gewerkschaften, Umweltschützer:innen, Gesundheitsinitiativen und NGOs aus ganz Europa zur «Right to Energy Coalition» zusammengeschlossen. Diese Plattform für das Recht auf Energie lobbyiert in Brüssel gegen das Abschalten von Strom­anschlüssen wegen Zahlungsproblemen, für kostenfreie Hausrenovierung armutsbetroffener Haushalte und eben auch für die Energiegrundversorgung. Denn, so ihr Leitspruch: «Energiearmut ist keine persönliche Verfehlung, sondern ein politisches Versagen!»

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