Mittelstandsleichetun & lassen

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Von den in Lissabon beschlossenen politischen Prioritäten »Wachstum«, »Arbeitsplätze«, »sozialer Zusammenhalt« wurde Letzteres beim EU-Frühjahrsgipfel im März von den nationalen Regierungschefs nicht von »bösen Bürokraten« in Brüssel gestrichen. Sozialer Ausgleich hat damit keine Priorität in Europa.

»Wir zittern mit. Wir zittern, ob sie es schafft. Jetzt, wo sie so ängstlich geworden ist. Wir wissen nicht, wie das gehen soll, aber sie hat sich verhakt, so in ihrer lebenssituation. sie hat so angst, dass sie es nicht schafft. dass sie bald gar nichts mehr hat. Sie ist so ängstlich, sie hat den verdacht, mit ihr geht es nur noch bergab. sie sagt, sie gibt jetzt gar nichts mehr aus, weil sie sonst noch tiefer in die bredouille kommt. Sie knispert und knuspert an den kleinen summen rum, die sie vor sich herschiebt. Und wir knuspern mit. Zum beispiel: braucht sie wirklich noch ein zweites obst, wo sie ein erstes obst schon hat. Braucht sie den tee, wo ihr der andere zur verfügung steht. Sie sagt: das hat man ja bei heiner gesehen, wie schnell das geht. Wir sagen: das hat man bei heiner gesehen. Sie hat immer beispiele zur hand. Und wir machen sie mit.« Die Schriftstellerin Kathrin Röggla verfertigte diesen Text »draußen tobt die dunkelziffer«, der zurzeit am Volkstheater uraufgeführt wird. Wochenlange Recherche und Gespräche mit Menschen, die nicht viel Geld haben, in prekären Jobs arbeiten müssen, finanziell nicht mehr weiter wissen, hat Röggla geführt.

Nach der sozialen Protestwahl in Frankreich hören sich die Texte, die um die Zukunft Europas fabriziert werden, defensiv an. Alle sind wieder schuld; »die Globalisierung« ist schuld, »die Ausländer« aus den Erweiterungsländern sind schuld, »Brüssel« ist schuld nur nicht der von den Regierungschefs betriebene Kurs mit Steuerwettbewerb, Sozialdumping und Standortnationalismus.

Das Abrücken von jenen Teilen der Lissabon-Strategie, die die Weiterentwicklung eines aktiven Sozialstaates und die Bekämpfung der Armut vorsehen, ist ökonomisch fahrlässig und für ein gemeinsames Europa gefährlich. Jetzt schon leben 68 Mio. Menschen im EU-Europa unterhalb der Armutsgrenze, in den reicheren EU-Ländern nehmen wir steigende soziale Problemlagen für eine wachsende Zahl von Menschen wahr.

Wachstum, Jobs und soziale Sicherheit gehören zusammen und sind Produktivkräfte für Wohlstand und Entwicklung Europas. Ein Vogel fliegt nur mit zwei Flügeln. Neben dem Wirtschaftsflügel braucht es den sozialen Flügel, damit Europa abhebt. Ein soziales Europa ist möglich. Gerade jene Länder, die über ein hohes Maß an sozialer Sicherung verfügen, haben geringe Armutsraten und ein höheres BIP pro Kopf. Die ökonomisch erfolgreichsten Länder Europas liegen mit ihrer Sozialquote über dem EU-Durchschnitt.

Ansonst kracht das zusammen, was es an sozialen Zusammenhalt gibt. Röggla: »A: wir tragen da eine mittelstandsleiche mit uns herum, die sich von unseren körpern nicht wegbewegen lässt.

B: diese mittelstandsleiche hat noch nie spaß gemacht, obwohl man das so leichtfertig sagt. Aber sie muss in bewegung gehalten werden. immer in bewegung gehalten.

C; und wann landen wir im millionengrab, wo man sich nicht umzudrehen hat, weil so wenig platz dafür da ist?«

Martin Schenk

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