Mütter, Töchter, Weiße Wäsche und Herta MüllerDichter Innenteil

Am Küchentisch mit Jella Jost

Ich suche Frauen, denn ich suche mich. Männer sind mir nahe. Mein Vater, mein Bruder, mein Mann, mein Sohn, meine Freunde. Aber Frauen stehen weit weg, sind nicht zu erkennen, als ob sie mir ein großes Rätsel bleiben wollen, als ob mir die erste Frau in meinem Leben abhanden gekommen wäre, die Mutter.

Grafik: Jella Jost

«Der König verneigt sich und tötet»

Über meine Mutter zu schreiben fällt mir schwer. Über die Milchbrust, die sie mir viel zu kurz gab, damit ihre Brüste formvollendet schön blieben, über den abgerissenen Milchstrom zwischen uns. Wir waren weit voneinander entfernt, zwei Geschichten, zwei unterschiedliche Menschen. Ich bin nie wirklich an sie rangekommen. Immer war da diese Wand, diese Mauer, vor der sie selbst einst geflohen war, aus der DDR, die Tragik jener Zeit und vieler Leben auf der Flucht, die Flucht mit ihrem Kind – es war mein neun Jahre älterer Bruder – am Arm nach Westdeutschland und später nach Wien. Ich aber wurde in Wien gezeugt. Ich war ein Wiener Mädel, kein deutsches Püppchen. Ich wehrte mich seit der Volksschule gegen Herabsetzung aufgrund der Zuschreibungen durch mein klar gesprochenes Deutsch als Kind von Schauspielern, farblos noch vom Einschlag Österreichs.

Mutter war eine Wartende. Sie saß auf dem Sofa. Sie saß und sah Rosenthals Dalli Dalli und wartete. Alle unterdrückten Frauen in patriarchalen Kulturen sind quasi Wartende, solange sie nicht aktiv werden können. Mein Vater trank sich die Depression aus seinem verwundeten Kriegs-Herzen vergeblich hinunter, nach seinen fast täglich so anstrengenden Auftritten im Burgtheater. Ich liebte ihn, ich verehrte ihn, ich hasste ihn und blieb ihm dennoch innerlich treu, so wie es sich gehört als braves Bürgermädchen. Er hatte mich schon auf seine Seite gezogen. Mutter war in der Defensive. Die Arme. Vater war ein Abenteurer, er war ein Unberechenbarer. Promiskuitiv und voller Esprit beteuerte er vor jedermann und jederfrau die Treue seiner Frau gegenüber. Das war Januskopf persönlich. Die meisten Männer waren Janusköpfe, spürte ich als kleines Mädchen, dem durch übergriffige Blicke oft in das Höschen geblickt wurde. Sie führten ein Doppelleben in vielerlei Hinsicht, nicht nur sexuell. Ich ahnte, was mit den meisten Männern damals geschehen war. Militarismus. Krieg. Gewalt.

Ohne Fassade, ohne Schminke

Nun, welche Frauen also suche ich da? Ich suche Frauen, die mich so nehmen, wie ich bin, ohne Fassade, ohne Schminke. Ich suche keine Frauen, die sich mit Unterhaltungssendungen das Denken weichmassieren lassen. Und keine Wartenden mehr. Und nie mehr Dalli Dalli. Und lieber laut, grell, chaotisch und verrückt als schweigend, nichtssagend und ignorant. Als würde Mutter immer noch vor der TV-Wand sitzen auf dem gleichen altrosa-farbigen Sofa und gegen sie anschweigen. Aber die Wand gab ihr keine Antworten. Die Wand nicht.

Ich bin so glücklich, wenn ich Herta Müller höre. Ich höre den Bruch, aber nicht das Zerbrechen. Ich spüre ihr seelisches Vibrieren und die Kraft des von ihr geformten Wortes.

Neulich in Oberösterreich bei meiner Schwiegermutter sah ich zu meiner Überraschung Herta Müllers «Der König verneigt sich und tötet» im Bücherregal stehen. Griff es sofort raus. Ging in den ersten Stock, legte mich auf die alte, viel zu harte Matratze und las und las. Und vernahm währenddessen Herta Müllers unnachahmliche Art, Gedanken in Worte, in Sätze zu fassen, mit einem Timbre in der Stimme, das zutiefst berührt und bewegt. Keine Schauspielerin im deutschsprachigen Raum, die ihr nachkommt in der Kunst des Erzählens, des Sprechens. Ich hörte sie also in meinem Kopf das Buch sprechen, das ich gerade las! Welcher Schriftstellerin kann denn so etwas gelingen? Eine Zartheit und dieser Wille zur Wahrheit, den ich in ihrer Stimme wahrnehme, jene Poesie der Zwischentöne, zwischen Vernichtung und Leben, diese wirklich große erzählerische Verbindung zwischen Herz und Intellekt. Ich höre den Bruch – aber nicht das Zerbrechen. Ich spüre ihr seelisches Vibrieren und den unwiederbringlichen Mut des von ihr geformten Wortes. Ich bin so glücklich, wenn ich Herta Müller höre. So wünsche ich mir Frauen.

Die großen Themen ihrer Romane sind Überwachung, Bespitzelung, Bedrohungssituationen, das Existenzielle, Flucht, Exil, der Verrat durch Freunde, Diskreditierung, Kompromittierung, Isolierung. Ist es das, was mich anzieht, was mich erinnert? Erst kurz vor ihrem Tod hat meine Mutter über ihre Bespitzelung in der DDR gesprochen. War das die Wand, gegen die sie nie ankam? Sie war schon schwer dement, ich konnte keine weiteren Informationen mehr herausfinden. Mutter ist gestorben. Jetzt hat sie gut lachen. Ich hoffe, sie lacht, lacht laut. Über mich. Über sich. Über die Wand, die es heute nicht mehr gibt. Meine Eltern waren Künstler, es kursierte allseits Misstrauen und es wurde manchmal sehr leise in den Wohnzimmern gesprochen. Mein Vater hielt sich verbal und auch sonst nicht zurück, sein existenzieller Redestrom über Krieg, Zerstörung und Verfolgung war unversiegbar. Er wollte keine weißen Vorhänge wie meine Mutter. Er wollte im Strom baden, auch wenn dieser durch Blut verfärbt war. Flucht ist ein Trauma. Natürlich, was denn sonst. Flucht ist keine selbstgebuchte Pauschalreise mit Priority-Class ins 5-Sterne-Hotel. Flucht ist Maßnahme gegen Vernichtung. Flucht lässt sich demnach nicht verhindern oder aufhalten. Denn der Tod wartet gar nicht, dem Tod sind Grenzen aber so was von wurscht. Und der Tod erfasst alle.

Zu wissen, dass die Zeitgenossinnen meiner Großmutter nicht nur brave Ehefrauen, Mütter, Hausfrauen und Köchinnen waren, sondern vielmehr eine Generation potenzieller Freiheitskämpferinnen, gibt ihrem Dasein eine neue Dimension und meinem Leben neue Kraft.


(Midge McKenzie, britische Filmregisseurin und Autorin)

Ich wasche heute noch meine geerbte weiße Wäsche. Das sind Berge von Wäsche, die da herumliegen, generationenübergreifend getragen, benutzt und ausgeschwemmt. Aber sie wird nicht wirklich weiß, die Wäsche. Welche Anmaßung auch, Wäsche weiß waschen zu wollen, welche Lächerlichkeit, die kleinsten Flecken zu beseitigen, damit die scheinheilige Reinheit nicht durch einen Makel gestört wird, weil das Anti-Potenzial von Liebe, die im eigenen Inneren verschlickt und erstickt, nach außen gestülpt wird, clean, steril, weiß, glatt, starr. Der Kategorie des sauber-weiß Gewaschenen steht das Leben mit all seiner Unkontrollierbarkeit und Unvorhersagbarkeit entgegen. Das Leben blubbert und pulsiert. Das Leben gibt und nimmt, ganz schnell und ganz unverhofft.

Herta Müller zitiert in ihrer Rede zur Verleihung des Kleistpreises 1994: «Man liest bei Kleist, wie die Welt weder im Wissen noch im Fühlen zu erfahren ist. Wie alles aufeinander hilflos angewiesen und einander ausgeliefert ist. Wie es sich selber aussucht, was vom Äußeren im Kopf innen stehenbleibt. Wie es im Stehen schläft und schlafend immer nach sich selber horcht. Und es horcht so, dass man ihm erliegt. Ob man, was das Leben ausmacht, durch sich selber oder durch andere erfährt, ob man es als Schweigen für sich behält oder als Satz aus dem Schädel hinausschickt, es kann seinen Ausgangspunkt nicht behalten, seine eigene Absicht nicht einlösen. Es gibt für das, was das Leben ausmacht, keinen Durchblick. Nur gebrechliche Einrichtungen des Augenblicks. Und Zurechtlegungen, die nicht bis zum nächsten Schritt halten.»

In die kleinsten Ritzen

Das Leben drängt sich in die kleinsten Ritzen, es kriecht unter die Fingernägel und zwischen die Zähne. Dort lebt es, verfault es, wuchert es weiter und entwickelt neues Leben. Das Leben arbeitet nach eigenen Gesetzen, nicht nach denen einer sogenannten westlichen Zivilisation. Das Leben steht vor unserer Türe und klopft an und bittet um Einlass. Es steht also vor dir das Leben, und das Leben ist nicht schön, das Leben ist geschunden, ihm fehlen Zähne, es zittert und es ist krank. Das Leben stößt uns in die Grube und holt uns vielleicht da wieder raus. Der liebe Augustin hat´s gewusst. Wozu da noch weiße Wäsche waschen? Besser Herta Müller lesen und die Türen öffnen. Und ins Kino gehen. Der neue Film von Pedro Almodóvar «Julieta» lockt mich. Wieder einmal geht es in seinem Film um Mütter und Töchter, um Schuld, Trauer und Liebe. Ich sehe mich eine zu volle Tüte Popcorn und ein Cola mitnehmen, die große Türe des Kinosaals öffnen und mich in die letzte Reihe fußfrei setzen. Alleine. Ich denke an den gestrigen Streit mit meiner erwachsenen Tochter und mir fällt Johanna Dohnal ein: «Was heute immer noch viele Frauen ihren Söhnen ent-schuldigen, ihren Partnern oder Männern verzeihen und ihren Töchtern als Opferverhalten anerziehen, wirkt gegen die Unabhängigkeit und Würde von Frauen.» Ich denke, ich sollte doch nicht alleine ins Kino gehen. Ich werde doch vier Tickets reservieren. Mutter, Tochter, Vater, Sohn, ja genau in der Reihenfolge. Und nachher werden wir über jenes reden, welches im Sinne moralischer Bewertungskategorie möglicherweise gar nicht notwendig ist – Schuld. Dazu empfehle ich beiläufig sommerlich-beschwingt Kafkas «Brief an den Vater». Wir sollten viel lesen und Türen öffnen.

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