Zu Dieter Schrages Kooperation mit dem Augustin
«Es ist eine vielfach dokumentierte Tatsache, dass das offizielle Kulturangebot in der Regel nur von etwa 10 bis 12 Prozent der erwachsenen Bevölkerung Österreichs wahrgenommen wird. Dabei ist der Kreis der Interessierten überwiegend eine durch Familie, Bildung, Beruf und sozialer Stellung privilegierte Schicht. Weite Bereiche der österreichischen Bevölkerung (etwa 70 Prozent) werden von den Kultur- und Kunstangeboten der öffentlichen Hand einfach übergangen. Dies gilt besonders auch für die öffentlichen Museen und Ausstellungshäuser aus dem Bereich der bildenden Kunst.»So begründete Dieter Schrage seinen Subventionsantrag für sein Projekt «Museum für den Augustin». Der vor wenigen Tagen verstorbene Kunstvermittler und Kulturwissenschaftler hatte bereits während seiner 2001 beendeten Tätigkeit im Museum moderner Kunst immer wieder Aktivitäten zur sozialen Öffnung des Museums gesetzt. Es waren AktivItäten, die für die einzelnen Gruppen sozusagen maßgeschneidert waren, denn jede Gruppe hat ihre spezifischen Probleme mit der Aneignung der Kunst, die nur theoretisch «für alle» zugänglich ist. Senior_innen haben ihre Gründe zur Schwellenangst, Sehbehinderte haben sie, Jugendliche aus Stadtrandbezirken haben sie
Zusammen mit dem Augustin glaubte Schrage, die «kunstfernste» Gruppe ansprechen zu können die Obdachlosen. Schrage kannte den Anspruch des Augustin-Projekts, ein «Gesamtkunstwerk» zu sein, und er kannte die verschiedenen Ansätze des Augustin-Teams, die Trennung von Kunstaktion und sozialer Aktion zu überwinden. Er war fasziniert vom (leider nur beim Ansatz gebliebenen) Versuch, eine «Neue Wiener Schule des Pflastermalens» zu initiieren; er begleitete die vortragenden Amateurschriftsteller_innen des Augustin und verfolgte die schrittweise Professionalisierung des «Stimmgewitters» und der Theatergruppe mit; er sah das Interesse der Ausgeschlossenen an den neuen Medien Augustin TV und Radio Augustin; er bewunderte die F13-Aktionstage, die sich immer mehr aus subversiven Happenings im öffentlichen Raum zusammensetzten.
Schrage verstand sein Projekt «Museum für den Augustin» auch als Forschungsprojekt. Für eine Reihe von Fragestellungen wollte er dadurch zu klareren Antworten kommen: Welche Formen der Ansprache bzw. der Animation sind zu wählen? Wie und in welcher Form wird die Zielgruppe der von Obdachlosigkeit Betroffenen erreicht? Welche Lebensinteressen sind anzusprechen? Welche Barrieren bestehen? Welche Inhalte, Botschaften aus den Bereichen der modernen Kunst können, sollen vermittelt werden? Kann die (Gegenwarts-)Kunst überhaupt eine Bedeutung im Leben von Obdachlosen haben? Welche Formen/ Methoden der Kunstvermittlung sind anzuwenden? Führungen in frontaler Form? Dialogische Kunstgespräche? Interaktive Modelle? Gezielte Provokationen? Welche Zusatzaktivitäten sind notwendig? Welche finanziellen Barrieren bestehen? Wie reagieren die Museen, Kunstinstitutionen auf den Besuch von Obdachlosen, die sich in ihrem Outfit teilweise stark von üblichen MuseumsbesucherInnen unterscheiden? Bestehen eventuell von beiden Seiten ausgehende Vorurteile?
In der Regel kam es im Rahmen dieses Projekts jeden letzten Monats-Freitag zu einer von Schrage selbst angebotenen Führung durch eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst. Das Spektrum reichte von der Otto Muehl-Ausstellung im Mak bis zur Auseinandersetzung mit dem Fotorealisten Franz Gertsch im Mumok. Schrage entwickelte dabei eine individuelle Form der Kunstvermittlung. Zum BeIspiel forderte er die Teilnehmer_innen in der Regel 15 bis 30 Interessierte auf, nach Genuss des Willkommens-Achterls das Weinglaserl unter jenes Bild zu stellen, das im Betrachter, in der Betrachterin die meisten Fragen aufwarf oder die größten Emotionen hervorrief. Wo die meisten Gläser standen, dort setzte Schrage mit seiner dialogischen Annäherung an Kunstwerk und Künstler_in an und oft blieb das erste Objekt auch das einzige, das besprochen wurde.
Im Frühjahr wollte Dieter Schrage zusammen mit dem Augustin einen neuen Anlauf unternehmen: Weil niemand von der Teilnahme ausgeschlossen war, besuchten in letzter Zeit viel mehr Augustin-Leser_innen als Augustin-Verkäufer_innen das Gratis-Führungsangebot. Mit Dieter Schrage hatten auch wir vom Augustin die Tiefe der Kluft zwischen Marginalisierten und Kunstbetrieb unterschätzt ein Graben, der nur durch eine radikale Wende zu sozialer Gerechtigkeit aufgefüllt werden könnte. Schrages Freitagsführungen «für den Augustin» waren demnach vorweggenommene Momente der sozialen Gleichheit. Sein Tod kann kein Anlass sein, sich die Anstrengung des Abtragens jener Mauern, die zwischen Kunst und Leben stehen, zu ersparen.