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Rassismus und Diversität in der Kunstmusik – Teil eins

Klassik, Pop, Weltmusik – nur scheinbar neutrale Begriffe. Denn verschiedene kulturelle Musiktraditionen und -stile werden nicht gleichwertig behandelt. Die Musikerin Golnar Shahyar will das nicht hinnehmen. Teil eins einer zweiteiligen Serie.

Text: Ruth Weismann
Foto: Jana Madzigon

2020 war nicht nur das erste Jahr der Pandemie, sondern auch das Jahr, in dem ein offener Brief für Aufmerksamkeit in der österreichischen Musikszene sorgte. Geschrieben hatte ihn Golnar Shahyar. Seit zehn Jahren arbeitete sie damals bereits als freiberufliche Sängerin, Instrumentalistin und Komponistin in ­Österreich, gab Konzerte im In- und Ausland, nahm Alben auf, kooperierte mit zahlreichen Musiker_innen. Aber Musikjournalist_innen verirrten sich fast nie auf ihre Konzerte. «Ich persönlich empfinde dies als Armutszeugnis für den österreichischen Musikjournalismus. Vor allem auch deswegen, weil ich nur eine von vielen bin, denen es ähnlich geht», schrieb sie in dem Brief.
Was Shahyar anprangert, ist die mediale Nichtbeachtung von migran­tischen, marginalisierten, und als «fremd» markierten Stimmen in der ­österreichischen Musiklandschaft. «Es ist erstaunlich, dass es der österreichischen Musikbranche gelungen ist, trotz der Existenz so vieler Künstler_innen von unterschiedlichstem kulturellem Background und so vieler Musikrichtungen in der freien Szene, diese vorhandene Diversität zu ignorieren», schreibt sie auch. Fast exakt zwei Jahre später sitzt Golnar Shahyar auf ­einer Parkbank im Wiener Setagaya­park und sagt: «Langsam ändert sich etwas.»

Diversität.

Seit einiger Zeit ein beliebter Begriff: Diversität. In der Klassik-Branche trägt er durchaus dazu bei, den Blick darauf zu richten, dass von Orchestern über Opernbesetzungen bis hin zum Publikum eben keine Diversität vorhanden ist, weil fast alle Personen der weißen Mittelschicht entstammen. Was Golnar Shahyar in der Debatte aber fehlt, ist ein Diskurs über Diversität in der Musik selbst. Das sei notwendig, wenn ein Land, in dem so viele Menschen mit Migra­tionshintergrund leben, sich demokratisch nennen will, ist sie überzeugt.
Dazu gehört das Ernstnehmen unterschiedlicher Musikstile, die neben den europäischen und angloamerikanischen nicht als «hohe Kunst» betrachtet werden. Und das Hinterfragen von musi­kalischen Kategorien, wie Klassik, Pop und Weltmusik.

Kategorien.

Golnar Shahyar ging aus dem Iran zuerst nach Kanada, später nach Wien, wo sie ein Gesangsstudium an der Universität für Musik und Darstellende Kunst absolvierte. Von Anfang an investierte sie ihre Zeit in die Suche nach ihrem eigenen Ausdruck. «Meine Musik ist der Klang meines Lebens und der Kulturen, mit denen ich in Berührung gekommen bin. Sie passt in viele Kategorien, wie zeitgenössischer Jazz, Songwriting, Avantgarde-Pop, Kammermusik, improvisierte Musik, zeitgenössischer Folk. Aber in westlichen Ländern werden diese musikalischen Räume von weißen Musiker_innen und ihren musikalischen Perspektiven dominiert. Der einzige Raum, der für jemanden wie mich, der von der dominanten Kultur als fremd empfunden wird, übrig bleibt, ist die Weltmusik-Szene. Leider war der Inhalt meiner Musik nie von Interesse, sondern das Image, das ich vertrete, war das entscheidende Element, um mich in der Industrie zu positionieren», sagt sie im Gespräch mit dem Augustin.
«World Music» und «Weltmusik» gab es als Begriffe schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts. 1987 wurde aus «World Music» eine Marketingkategorie in der Tonträgerindustrie «für populäre Musik aus Ländern außerhalb Angloamerikas», gibt das Deutsche Musikinformationszentrum (miz) auf seiner Homepage an. Es ist also kein Genre, sondern ein Marketingtool, «mit dem Produkte des künstlerischen Austauschs zwischen dem Norden – den USA und Westeuropa – und dem Süden der Welt beschrieben werden», so das miz. Eine kritische Debatte zum Begriff ist schon seit Längerem in Gange. «Er war vielleicht zu Beginn eine Lösung, andere Musikarten, die in der ganzen Welt existieren, in die Industrie zu bringen, aber das funktioniert jetzt nicht mehr. Es ist unmöglich, die Vielfalt, die es außerhalb europä­ischer und angloamerikanischer Musiktraditionen gibt, damit zu repräsentieren», sagt Shahyar.
Sie selbst war als Teil der Band ­Sormeh auch schon für die Austrian World Music Awards nominiert. «Das hatte ein bisschen mehr Aufmerksamkeit, weil es zu dieser exotisierenden Formel gepasst hat.» Weltmusik als Begriff schafft ein Machtgefälle. Das Interesse an «fremder» Musik gehe meist über Oberflächlichkeit und Exotisierung nicht hinaus. Die wenigsten würden sich näher damit beschäftigen, so Shahyar.
Kritisch betrachtet die Sängerin auch den Begriff der klassischen ­Musik. «Ich weiß, dass es ein Begriff ist, der eine bestimmte Musiktradition meint.» Aber man müsse das klar benennen: Die Universität für Musik und darstellende Kunst etwa unterrichte nicht ­Musik, sondern europäische Kunstmusik. «Aber das steht so nicht dabei.» Man nimmt an, es sei eine allgemeine Musik­universität, de facto sei es eine Uni für europäische klassische Musik. «Diese Selbstverständlichkeit, dass wir unter Hochkultur die europäische klassische Musik verstehen, ist kolonialistisch.»

Hierarchien.

«Klassische Musik war und ist mit der Ideologie des autonomen weißen männlichen Künstlers verbunden und wird eingesetzt, um Distinktionen, d. h. sozial bedeutsame Unterschiede zu anderen Gesellschaftsgruppen, zu produzieren», schreibt die Musiksoziologin Rosa Reitsamer dem Augustin in einem Interview per E-Mail.
Die Musikstudent_innen kämen in den meisten Fällen aus der oberen weißen Mittelschicht, so Reitsamer. Die Norm der europäischen klassischen Musik­tradition haben sie seit Kindheit verinnerlicht. Dazu gehört wohl auch die Hierarchie zwischen verschiedenen ­Stilen und Musikkulturen.
«Musikalische Praxis kann sehr viel Gewalt ausüben», sagt Golnar Shahyar. Sie habe aus ihrer Kultur eine bestimmte Art zu singen mitgenommen: Stimm­farbe, Phrasierungen, Modi. «Musikalische Muttersprache» nennt sie das. «Dann komme ich in ein europäisches Setting, und dieses Setting sagt: Alles was ich mache, ist falsch. Ich muss etwas anderes werden. Das ist Gewalt. Du wirst abgewertet.» Nicht-westliche musikalische Formen werden dann schon mal als einfach, monoton, primitiv, verstimmt, zufällig oder unterentwickelt bezeichnet.

Widerstand.

Es formiert sich aber auch Widerstand. Shahyar hat nicht nur einen offenen Brief geschrieben, sondern wurde auch in der Vernetzung aktiv. Sie ist Mitgründerin der Plattform WE:Shape, die Betroffene zusammen bringt, um ein Unterstützungssystem für freischaffende Musiker_innen zu etablieren, die Diskriminierung erfahren. Rassistische Diskriminierung genauso wie Diskriminierung aufgrund von Gender, sozialer Klasse, Alter, Behinderung, Religion und Sexualität. «Do you believe in the power of diversity?» ist eine der Fragen, die WE:Shape stellt. Den Begriff «Diversität» sieht Shahyar aber auch kritisch. Dann, wenn er nur als Feigenblatt oder Symbol (Token) verwendet wird – Tokenismus nennt man diese Praxis. Etwa wenn Diversität nur Werbeslogan bleibt, oder wie Shahyar erzählt: «Ich war schon in Musik-Programmen, wo ich wirklich nur als exotisches Objekt mit allen anderen Exot_innen zusammengestanden bin, damit eine Institution zeigen kann, wie sehr sie sich um Diversität bemüht.»
Dennoch birgt der Begriff auch Potenzial, findet etwa das «D / Arts – Projektbüro für Diversität und urbanen Dialog», das eine Transformation des ­Kulturbetriebs anstrebt. Eine Arbeitsgruppe, der auch Shahyar angehört, setzt sich dort kritisch mit dem Begriff der klassischen Musik auseinander und kuratierte im Februar eine Veranstaltung im Wiener Musikverein. Als Konzerthaus ist dieser eine der Partnerinstitutionen von D / Arts, die sich dem Prozess stellen und diverser werden wollen. Golnar Shahyar sieht das grundsätzlich positiv, sagt aber auch, man müsse schauen, was langfristig aus solchen Bemühungen werde.
Unterschiedliche kulturelle musika­lische Sprachen sind jedenfalls Teil der Realität in Österreich und sollten, so Shahyar, auch in der Ausbildung an Unis einen Platz finden. «Ich sehe Musik als ein starkes Medium, mit dem man in ­einer Gesellschaft Vertrauen, Empathie und ein Gemeinschaftsgefühl auslebt», sagt sie. «Das ist, was Musik eigentlich macht, und das ist, was ich mache.»