Nach 50 Ausgaben:Artistin

Vom Urknall zur augustinischen Intervention

50 ist eine Zahl, die verpflichtet (wir leben in einer Gesellschaft, die eine Strukturierung der Zeit mittels Ritualen benötigt). Unsere Druckerei z.B. fühlte sich verpflichtet, eine Jubiläums-Schmuckfarbe zu entwickeln, die annähernd Gold darstellen soll – eine drucktechnische Rafinesse. Indem Sie eben diese 50. Ausgabe des AUGUSTIN in Ihren Händen halten, erwarten wir, dass Sie von uns einen rituellen Rückblick erwarten: Stationen des Weges vom Urknall in Richtung Schwarzes Loch.Oktober 1995. Von einer Handvoll obdachloser KolporteurInnen, darunter dem legendären Smoky, werden rund 6000 Exemplare der Ausgabe Nr. 1 verkauft. Die prominentesten Autoren der ersten Nummer sind Helmut Zilk und Smoky. In einer Art Vorwort eines AUGUSTIN-Gönners bemüht der Altbürgermeister Kant: „Mehr Wohlstand sorgt paradoxerweise für immer mehr Sorgenkinder. Wir können die Hilfe nicht staatlicher Fürsorge überlassen – wir müssen sozusagen selber an die Front … Mitleid ist wichtig. Viel wichtiger ist das, was man im Sinne von Kant normative Ethik nennen könnte: Handeln aus Pflicht. Du hilfst dem Armen nicht, weil er dir leid tut, sondern weil du die Pflicht hast, ihm zu helfen. Der Impuls, zu helfen, muss sozusagen vom Über-Ich her kommen“. Smokys Thema lautet hingegen: Wie hilfst du dir selber? In seinem Beitrag beschreibt er, wie man mit der Eisenbahn von Wien nach La Roda de la Mancha (Spanien) trampt, ohne einen Groschen zu bezahlen. Mit oder gegen Kant, mit oder gegen Zilk., mit oder gegen Über-Ich.

Jänner 1996. 16.000 Exemplare werden verkauft; mit 24 Seiten ist der Umfang des AUGUSTIN erst halb so stark wie vier Jahre später. Die Medien haben begonnen, die Erfolgsgeschichte des AUGUSTIN wahrzunehmen. Der „Standard“ schreibt: AUGUSTIN habe „nach nur drei Monaten seines Bestehens eine Verkaufszahl erreicht, von der so manches lifestylige Stadtmagazin nur träumen kann“. In einem AUGUSTIN-Interview bekennt Vizebürgermeisterin und Sozialstadträtin Grete Laska: „Ich halte das Zeitungsprojekt für außerordentlich wichtig. Besonders bemerkenswert finde ich dabei, dass es ohne öffentliche Mittel auskommt. Für mich heißt das: Hier wird mit großem Engagement professionell gearbeitet.“ Das große Engagement wird ihr bald lästig werden: Nur mit Mühe wird es dem AUGUSTIN vier Jahre später gelingen, einen Termin mit Grete Laska zustande zu bringen, um die Politikerin mit der Kampagne „Freie Fahrt für SozialhilfeempfängferInnen“ zu konfrontieren.

September 1996. AUGUSTIN-Poet Hömal (Mitarbeiter der ersten Stunden) gelingt es, mit vier Wörtern das terroristische Wesen der Konsumgesellschaft auszudrücken: Gemma, gemma / nemma, nemma / Gia, Gia, Gia / mia, mia, mia.

November 1996. Wieder ein Kolportage-Rekord. Die Auflage von 20.000 Stück ist bereits am 19. November ausverkauft. Strawinsky beschreibt in seinem „Tagebuch eines AUGUSTIN-Verkäufers“ die erbärmlich gescheiterten Versuche, die Zeitung in diversen Gürtel-Puffs an die Frau zu bringen. „Wos, bei uns im Puff? Oida, bist deppert?“, zitiert er eine Bardame. Strawinsky rächt sich mit einem Gedicht: … Im Morgengrauen bist du welk / kein Freier möchte dir begegnen / abgeschminkte Lust / und du schleichst im Nebel der Nacht / ohne Liebe.

Februar 1997. AUGUSTIN richtet eine eigene Internet-Homepage ein.

März 1997. Das Laxenburger Institut für Strategische Markt- und Meinungsforschung (ISMA) führt eine Wiener Telefonumfrage zur Bekanntheit des AUGUSTIN und zum Leseverhalten der AUGUSTIN-Käufer durch. Wichtigstes Ergebnis: Zwei Drittel der Befragten gaben an, den AUGUSTIN zu kennen. „Ein überraschend hoher Prozentsatz“, räumt Dr. Karl Spitzenberger vom ISMA ein: „Normalerweise müßte man für eine neue Marke bzw. ein neues Produkt viele Werbemillionen ausgeben, um eineinhalb Jahre nach der Markteinführung einen solchen Bekanntheitsgrad zu erreichen. Beim AUGUSTIN wurde der Werbeaufwand durch die Verkäufer kompensiert, die man überall in der Stadt sieht“, meint der Marktforscher.

Mai 1997. Talkshow mit Hermes Phettberg, veranstaltet vom AUGUSTIN. Phettberg ist nett zum Gastgeber: „Ich finde, die größte, revolutionärste Tat dieses Jahrzehnts ist das Erscheinen des AUGUSTIN. Wenn überhaupt eine Antwort auf Haider möglich ist, ist es der AUGUSTIN.“

Juni 1997: Das erste Buch mit Texten aus der AUGUSTIN-Schreibwerkstatt erscheint in der Uhudla Edition. Der Titel des Buches – „Es ist fad, ohne Cognac auf den Weltuntergang zu warten“ – ist eine Anleihe aus einem Smoky-Text. Zweieinhalb Jahre später werden 1000 Stück verkauft sein.

Oktober 1997: Dem „Standard“ fällt die Steigerung der verkauften Auflage des AUGUSTIN auf: von 6000 im Oktober 1995 auf 32.000 im September 1997. Und die „Presse“ schreibt: „Die Zeitung AUGUSTIN ist von der ungewöhnlichen Sorte. Sie zieht den Leser zwischen die Zeilen, den Käufer zu den Obdachlosen, die Verkäufer zurück in die Gesellschaft.“ Inzwischen sind mehr als 500 von LeserInnen ausgefüllte Fragebögen (eine Initiative des Publizistikstudenten Ch. Gruber) ausgewertet. 65 % der Befragten gaben an, regelmäßig jede AUGUSTIN-Ausgabe zu beziehen; der oder die typische AUGUSTIN-LederIn ist weiblich, jung (aber nicht unter 20) und Angestellte(r) oder StudentIn. Wichtig für uns ist die Frage nach dem Kaufmotiv. Die Meinungsbefragung ergibt, dass der Gedanke der finanziellen Unterstützung, also das karitative Motiv, nicht so dominant ist, wie wir ahnen mussten. Die Menschen kaufen den AUGUSTIN a u c h, weil sie in ihm alternative Informationen erwarten.

Dezember 1997: Alternative Informationen, wie sie z.B. die Ausgabe Nr. 24 haufenweise zu bieten hat. „Skandal unterm Sternenzelt“ heißt einer der Beiträge. Joschi Cerny, der Sandler vom Füchselhofpark in Meidling, seit fünf Jahren obdachlos, ist bestraft worden, weil er gegen die sogenannte Wiener Kampierverordnung verstoßen hatte: 500 Schilling oder einen Tag Häfen. Die Kampierverordnung verbietet Personen, Schlafsäcke außerhalb von offiziellen Campingplätzen zu benützen. Hätte sich Joschi, der von einem Polizisten auf einer Parkbank aufgestöbert wurde, mit einem Mantel anstelle seines Schlafsackes vor der Winternachtskälte geschützt, wäre keine Verwaltungsübertretung vorgelegen. Die Geschichte schockiert viele Leser. Zwei Rechtsanwälte in einem gemeinsamen Leserbrief an den AUGUSTIN: „Es wundert uns nur, dass man Herrn Cerny für die Inanspruchnahme seines ‚romantischen‘ Schlafplatzes nicht auch noch Vergnügungssteuer vorgeschrieben hat. Wir schämen uns dafür, dass Steuergelder für derartige Entgleisungen missbraucht werden und haben öS 500,- auf Ihr Spendenkonto für Herrn Cerny überwiesen.“

Februar 1998: AUGUSTIN veranstaltet seinen ersten großen Gegen-Opernball, den „Opferball 98“. Die „sinnlichste und wienerischte Negation des Opernballes“ (Eigenwerbung) fällt einer starken Abordnung in- und ausländischer Medien auf. „Gute Laune ohne Samt und Seide“, formuliert der „Kurier“. Die anderen Gegen-Opernbälle schneiden in der Berichterstattung vergleichsweise schlecht ab.

März 1998: „… in der Causa AUGUSTIN, einem weinerlichen Presseobjekt, das jedem journalistischen Anspruch widert und in diese Determiniertheit gekerkert wohl nur eine periphere U-Bahn-Abgangs-Erscheinung bleibt…“ So nimmt Kolumnist Klimek vom McMainstream-Wochenblättchen CITY die Konkurrenz namens AUGUSTIN wahr. Die verkaufte Auflage des AUGUSTIN hat sich mittlerweile auf die Höhe von 40.000 pro Monat eingependelt.

Juni 1998. Der AUGUSTIN-Beitrag über den „Abteilungsauftrag 21/98“ der U-Bahn-Abteilung der Wiener Verkehrsbetriebe, der den Stationswarten befiehlt, „Randgruppen aus den Stationen zu entfernen“, stößt bei LeserInnen auf betroffenes Staunen. Ein Leser reagiert mit einem Offenen Brief an die Wiener Linien: Als Dauerfahrgast fühle er sich weniger von den Obdachlosen in den Stationsbereichen gestört, als vielmehr von der Intoleranz gegen „Menschen, die aus irgend einem Grund nicht den Normen unserer Leistungsgesellschaft entsprechen.“

August 1998: Start von Radio Augustin auf der nichtkommerziellen Wiener Radiowelle Orange 94.0.

Oktober 1998. Der AUGUSTIN und seine Verkäufer kreieren eine besondere Form von Aktionismus, die Beobachter später als „augustinische Intervention“ beschreiben werden. Gemeint sind spaßguerilla-artige Demonstrationen, die der Öffentlichkeit und den politischen Entscheidungsträgern klar machen sollen, dass sie es ab nun mit einer Lobby für die Ausgegrenzten dieser Stadt zu tun haben. Der erste Akt ist die „Aktion Bankraub“ in der U- und S-Bahnstation Spittelau: AUGUSTIN-Verkäufer weisen in Form eines Happenings auf die Tendenz der Vertreibung von Randgruppen aus dem öffentlichen Raum hin (in der Spittelau weigert sich die Stadt, Sitzbänke aufzustellen, mit der Begründung, diese würden von Obdachlosen „missbraucht“ werden). Die wiederholten D-Wagen-Besetzungen ab Mai 1999 („Tage der freien Fahrt“) werden weitere Höhepunkte dieser Serie sein. Obwohl die Aktionen nicht immer strikt im Rahmen der Legalität bleiben, sind sie immer so angelegt, dass sie die Sympathie einer wohlmeinenden Öffentlichkeit erregen. Ein Großteil der Medien begleitet diese Aktionen positiv, nicht zuletzt deswegen, weil eine Selbstorganisation der Ausgegrenzten Neuigkeitswert besitzt. Zitat aus dem „Standard“: „Drei Jahre gibt es ihn nun, den AUGUSTIN, jene Postille, die wir jeden Monat heiß erwarten und die aus Wien gar nicht wegzudenken ist.“

November 1998. Ein personeller Wechsel im Redaktionsteam wird zum Anlass einer Design-Reform genommen. Das Layout des AUGUSTIN wird geändert, und fast wäre es auch zu einer Formats-Änderung gekommen. Auszug aus dem Editorial: „Der Layouts-Revolutions-Kommission war nicht einmal das Format heilig – bis Vorständler Andreas Schmid (im Sinne der Kolporteure) diesbezüglich ein Machtwort sprach: Das Kriterium lautet, ein Hunderter-Packel AUGUSTIN muss in ein Billa-Sackerl passen. … Von nichts und niemandem will der Im AUGUSTIN abhängig sein – und da stellt sich heraus, dass die Straßenzeitung vom Kleinformat nur wegkommt, wenn Billa sein Sackerlformat vergrößert…“

Dezember 1998. 55.000 Stück AUGUSTIN werden verkauft.

Februar 1999. Erneut stellt sich heraus, dass der „Opferball“ des AUGUSTIN, und nicht etwa der in der selben Nacht stattfindende Opernball, der „Ball der Bälle“ ist. „Schon kurz nach elf war der Andrang beim Opferball der Wiener Obdachlosenzeitung Augustin so groß, dass die Türen der Akademie der Bildenden Künste am Schillerpark erst wieder geöffnet wurden, wenn jemand den Ball verließ.“ (Standard). Beim Obdachlosen-Hallenmasters 99 wird das Fußballteam des AUGUSTIN letzter von acht Teilnehmern, gewinnt jedoch den von den Veranstaltern gestifteten Erotik-Pokal.

April 1999. Im Sigmund-Freud-Gymnasium wird das Stück „Hoppala Augustin“ aufgeführt. Die SchauspielerInnen sind Studierende dieser Schule. Autor des Schauspiels ist AUGUSTIN-Verkäufer Günther „Südtirolerplatz“ Eckhardt. In seinem (autobiografischen) Stück geht es um die Karriere eines Sandlers vom Bettler zum Zeitungskolporteur.

Mai 1999. Zu den ersten Sozial- und Nonprofit-Initiativen, die vom neugeschaffenen „Spendenparlament“ des Forum Zivilcourage unterstützt werden, gehört Radio Augustin – die inzwischen stabile Radiowerkstatt, die aus Radiojournalistinnen und interessierten Obdachlosen besteht und zweimal pro Woche einstündige Sendungen produziert. Die Spende beträgt 42.000 Schilling.

Juli 1999. Im Alter von 47 Jahren stirbt „Sandlerkönig“ Smoky (bürgerlicher Name: Robert Stinauer), einer der wenigen Exemplare aus der Klasse der weltläufigen Clochards, wie der AUGUSTIN in einem Nachruf formuliert. Wie kein anderer Verkäufer hat er in der inzwischen vierjährigen Geschichte der Straßenzeitung Anektoten gelebt. „Ich bin nicht normal, in dem Sinn, dass ich zurück will in das Affenrennen. Weil ich habe einen Schwur geleistet, als ich genug hatte von allem. Und der Schwur ist, besser in der Wildnis zu sterben, als ein Sklave zu sein“, hinterlässt Smoky als Vermächtnis des kontemporären Nomaden.

September 1999: Der AUGUSTIN vergrößert noch einmal seinen Umfang: Die achtseitige „StrawanzerIn“, ein Wien-Programm zum Herausnehmen, erscheint zum ersten Mal. Ein AUGUSTIN-Werbespot im Privatsender W 1 und im Österreich-Werbefenster deutscher Privatsender beginnt Aufsehen zu erregen. Ein Geschenk der PR-Agentur Sounddesign und der SchauspielerInnen Daniela Gaets, Götz Kauffmann, Günther Mokesch, Adi Hirschal und Dieter Chmelar an den AUGUSTIN. Die starke Präsenz des Spots lässt das Gerücht entstehen, der AUGUSTIN sei ein finanzstarkes Unternehmen.

Jänner 2000. Rund 250 AUGUSTIN-KolporteurInnen vertreiben 70.000 Stück von der Ausgabe Nr. 49.

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