Nach der Haft: Altersarmut statt Resozialisierungvorstadt

Mindestens 40 Prozent der Haftentlassenen leben im Pensionsalter unter der Armutsgrenze. Es sind oft Menschen, die es vor der Haft ohnehin bereits finanziell schwierig hatten. Da sie noch dazu für die Pflichtarbeit im Gefängnis nicht pensionsversichert waren, ist ihre Altersarmut vorprogrammiert.

TEXT: CHRISTOF MACKINGER
COLLAGEN: CAROLINA FRANK & NINA OBER

Mit leicht gebeugtem Rücken geht Helmut Dachsberger voraus, er kennt sich hier aus. Durch den Barbereich, es riecht nach kaltem Rauch, den Gang ins Freie. Dort nimmt er an einem kleinen, wackeligen Metalltisch Platz. Sein graues Haar ist voll für seine 75 Jahre, leicht zerzaust. Die schwarze Leder­jacke liegt gut auf seinen Schultern. An diesem Herbstnachmittag ist das Wetter geradezu mild in der niederösterreichischen Hauptstadt. Gelegentlich kommt sogar die Sonne durch. Ein halbes Jahr lang habe er hier gewohnt, habe er für alle gekocht, sei die Freude groß gewesen, dass es «ein gutes Papperl» gibt, erinnert sich Dachsberger. Das Haus am Stadtrand von St. Pölten habe ihm Halt gegeben, als er im Jahr 2008 rauskam, aus dem Gefängnis.
Neben dem Mistplatz, nahe den Schienen, schräg unter einer Schnellstraßenbrücke, am Stadtrand von St. Pölten. Unscheinbar, aber ein «Rettungsanker in turbulenten Zeiten» wie es die Betreiberin selbst, die Emmaus Gemeinschaft, umschreibt. Die karitative Organisation betreibt das Wohnheim für von Obdachlosigkeit Betroffene.
Auch für Dachsberger war das Haus ein Rettungsanker im Jahr 2008. Zweieinhalb Jahre davor, er hatte eine erfüllende Beziehung, sich finanziell «gerade so dafangen … dann ist mir das passiert», erzählt er sichtlich betrübt. Es war ein Unfall, sagt er. Körperverletzung mit ­Todesfolge. Er landete im Gefängnis, nicht zum ersten Mal. Nach zwei Jahren Haft habe ihn seine Lebensgefährtin verlassen. Als er rauskam, hatte er «­keine Wohnung, keine Beziehung, kein gar nix». Dachsberger nimmt einen tiefen Zug von der Zigarette. Die turbulenten Zeiten konnte er zum Glück hinter sich lassen. Heute mag er es, ins Wirtshaus zu gehen. «Schmäh führ’n und bledln», wie er sagt. Das sei für ihn ­Lebensqualität. Oder auch gut zu kochen. Mit der Lebensqualität sei es aber oft ab dem 20. des ­Monats zu Ende. Da gehe ihm das Geld aus. Und jetzt noch die Teuerung. Monatlich hat er nur 1.100 Euro.

Kein Pensionsanspruch.

Auf eine ­richtige Pension fehlen ihm ganze sechs Beitragsjahre bei der Pensionsversicherung. Nicht wenig, aber kaum mehr als die Zeit, welche er in Summe schon im Gefängnis verbringen musste. Zeit, in der er hinter Gittern auch arbeitete. In die Pensionskassa zahlte er in diesen langen Jahren jedoch nicht ein.
Ein unsteter Lebenswandel und nicht zuletzt die Haftaufenthalte sind der Grund, dass Helmut Dachsberger und viele andere Pensionist:innen heute unter der Armutsgrenze leben, dass sie keinen Pensionsanspruch haben. Eigentlich sollte ein Gefängnisaufenthalt resozialisieren, vorbereiten auf ein angepasstes Leben in der Mitte der Gesellschaft. Und im besten Fall eine Grundversorgung schaffen. Für ältere Inhaftierte aber passiert oft genau das Gegenteil: Die Haft bringt vielen straffällig ­Gewordenen die Altersarmut. Nicht gerade die besten ­Voraussetzungen, um straffrei zu bleiben.
Am anderen Ende von Österreich, nahe Innsbruck, traf auch Fini ­Frachelli, schon vor Jahrzehnten, Entscheidungen, die ihr späteres Leben stark ­beeinflussen sollten. Schon als Jugendliche konsumierte sie Drogen, wurde heroinabhängig. Mit neunzehn Jahren ­landete sie in der Psychiatrie, kalter Entzug. Nach fast zwei Jahren, «ich war clean und gut drauf», musste sie trotzdem ins Gefängnis, erzählt sie. Wegen des Verkaufs von Drogen. Ein Dreivierteljahr und einen weiteren Klinikaufenthalt später kam sie frei. Das Problem jedoch: «Für die nachgewiesene Menge verkaufter Drogen sollte ich die Steuer nachzahlen.» Geblieben sind ihr damit gut 70.000 Euro Schulden. Geblieben ist ihr auch die Drogensubstitution, die tägliche Einnahme eines Medikaments, um den gesundheitlichen Schaden durch die Abhängigkeit zu minimieren. Heute ist ­Frachelli 64. Nach ihrer Entlassung habe sie ­alles Mögliche gearbeitet: «Verkäuferin, ­Bäckerei, Putzen, tralalala, halt irgendwelche Jobs», in Summe alles schlecht bezahlte Teilzeitstellen. «Als Frau mit Vorstrafe hast es fast noch schwerer ­einen g’scheiten Job zu finden». Die Schulden loswerden konnte Frachelli bis heute nicht. ­Hätte sie mehr als das Existenzminimum verdient, wäre das gepfändet worden. Beim Erzählen zieht Frachelli immer wieder an ihrem Joint. Sie ­konsumiere täglich. «Ist mir lieber als Pharma.» Eine Selbstmedikation, die ihr mehrere hundert Euro im Monat kostet. Und so ­musste sie lernen, mit wenig Geld auszukommen, derzeit exakt 977 Euro und 94 Cent. Gewohnt habe sie immer nur in billigen Altbau-Wohnungen mit Klo am Gang. Sie esse zwar nur gutes Essen, aber ­wenig. «Mehr ist finanziell einfach nicht drinnen.»

Armut und Gefängnis.

Der Zusammenhang zwischen den schmalen finanziellen Mitteln von Menschen wie Helmut Dachsberger und Fini Frachelli ist kein Zufall, sondern statistisch auffällig. Die Armut und das Gefängnis liegen nahe beieinander. Das Justizministerium (BMJ) etwa lässt wissen, dass allein unter den Inhaftierten mit österreichischem Pass elf Prozent vor ihrer Inhaftierung von der Mindestsicherung lebten – in Freiheit tun das gerade mal 2,2 Prozent, zum Vergleich. Weitere 18,4 Prozent würden Arbeitslosengeld beziehen und «rund 13 Prozent waren überhaupt einkommenslos», so die Sprecherin. In einzelnen Justizanstalten seien bis zu 62 Prozent der österreichischen Inhaftierten ohne Einkommen aus einer geregelten Arbeit. Auch der deutsche Rechtswissenschafter Ronen Steinke kommt in seinem jüngst erschienenen Buch Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich zum Schluss: Menschen aus einkommensschwachen Verhältnissen sind nicht nur gesellschaftlich benachteiligt, sondern in der Justiz besonders. Sie landen schneller in Haft, haben schlechteren anwaltlichen Beistand, bekommen höhere Strafen und weniger Hafterleichterungen.
Dennoch ist das Ausmaß von Altersarmut in Zusammenhang mit der Haft nicht einfach zu erfassen. Fritz Zeilinger, bei NEUSTART für Statistik zuständig, weiß welche Daten es wo gibt. Der Verein betreibt im Auftrag der Justiz die Resozialisierungshilfe für Straffällige. «Daher hab ich auch gewusst, dass es die relevanten Daten in offiziellen Berichten nicht gibt», sagt er. Zeilinger verfügt nur über Daten von Haftentlassenen, die bei NEUSTART waren. Seine Zahlen sagen Folgendes: Von den Haftentlassenen, die im Pensionsalter sind, «hatten mindestens 38,7 Prozent, aber wahrscheinlich deutlich mehr, ein Einkommen, das unter der Mindestpension lag». Das bedeutet, dass fast 40 Prozent dieser Haftentlassenen mit weniger als 1.030,49 Euro auskommen müssen – so hoch liegt derzeit die Mindestpension. Zur Orientierung: Die Armutsgefährdungsschwelle wird in Österreich mit 1.371 Euro monatlichem Einkommen berechnet.
Ganze 300 Euro darunter liegt auch die Pension von Helmut Dachsberger. Und das, obwohl der St. Pöltner neun Jahre lang seine Pensionsvorsorge einzahlte. Aus einer Familie mit Weinbaubetrieb kommend, habe er bis 1985 im Familienbetrieb gearbeitet. Nach ­einer Scheidung sei es dann schwierig geworden. Er hat die Arbeit aufgegeben, erste Gewaltdelikte begangen. «Ich hab mir das Deppertsein dann nicht mehr abgewöhnen können.» Nach einem ersten Haftaufenthalt wurde es auch finanziell eng. «Ich hab damals viel schwarz gearbeitet, ich hab ja nix anderes gefunden. Das fehlt mir heute bei der Pension.»
Tatsächlich muss man in Summe mindestens 180 Arbeitsmonate, also 15 Jahre, vorweisen können, um Pensionszahlungen zu bekommen. Wer keinen Pensionsanspruch hat, muss mit der Mindestpension auskommen. Die Zeit im Gefängnis sind dann quasi verlorene Jahre, sie fehlen für eine ordentliche Pension. Die Altersarmut ist vorprogrammiert.
Pensionist:innen, die sich nach der Haft mit Armut herumschlagen müssen, gibt es mehr als genug. Da sind nicht nur Herr Dachsberger oder Frau ­Frachelli. Da ist auch Rudolf Weber aus Wien. Er ist 70 Jahre alt und kam vor zwei Jahren nach seiner zweiten Haftstrafe frei. Dank seiner günstigen Wohnsituation habe er zwar kein Problem mit seinem Monatsbudget von 1.166 Euro, sagt er. «Würd’ ich nicht rauchen, würde ich noch besser auskommen.» Unter der Armutsgrenze liegt seine Pension aber trotzdem.
Oder Hans Forstler. Der Pensionist aus dem südlichen Niederösterreich hatte zwar schon viele Jobs, aber trotzdem muss der 74-Jährige heute nebenbei arbeiten. Von seiner Pension von etwa 1.000 Euro im Monat kann er nicht ­leben. Forstler war früher Reiseleiter, hat dann bei einem Unternehmen für Medizintechnik und in der Unternehmensberatung in Russland gearbeitet. Mit 45 hat er noch ein Studium der Agrarökonomie abgeschlossen. Aufgrund von «psychischem Druck im Privatleben», sagt er, habe er im Jahr 2010 einen Banküberfall versucht – und wurde gefasst. Nach seiner Freilassung nach vier Jahren ­Gefängnis war sein psychischer Zustand miserabel. Kaum besser waren seine ­Finanzen: «Es gab Monate, wo ich zehn Tage vor Monatsende nur 20 Euro hatte.» So blieb Hans Forstler nichts anderes übrig als sich im Alter von 66 Jahren noch zwei Nebenjobs zu suchen. Heute hilft er in einer Tierarztpraxis aus und arbeitet als Rezeptionist in einem ­Hotel. So ­komme er finanziell über die Runden, «auch wenn ich mir Dinge wie Zähne oder Psychotherapie nicht leisten kann».

Keine Grundversorgung.

Walter Hammerschick vom Institut für angewandte Rechts- und Kriminalsoziologie (IRKS) der Universität Innsbruck hat schon ­Mitte der 1990er Jahre zur ­Situation ­Inhaftierter geforscht. Dabei stellte er fest, dass «Strafgefangene oft ­bereits ­einen gravierenden sozialen Abstieg hinter sich haben, der lange vor der ­Inhaftierung einsetzte und sich in einer zunehmend geringeren Beteiligung am Erwerbsleben äußert». Das ist ein Hinweis darauf, «dass dem sozialen Ausschluss durch Kriminalisierung und Freiheitsstrafe oft ein Ausschluss von sozialen Teilhabechancen vorausgeht», schrieb er damals. Ein wissenschaftlicher Befund, der an Helmut Dachsbergers Biografie erinnert. Gemeinsam mit Kollegen hat er damals die Auswirkungen der großen Reform des Strafvollzugsgesetzes von 1993 untersucht. Als positiv begutachteten sie damals die neu eingeführte Entlohnung der Inhaftierten für deren Arbeit hinter Gittern sowie die Arbeitslosenversicherung, welche den Bezug von Arbeitslosengeld nach dem Gefängnis ermöglicht. «Wenn ich Menschen eine Grundversorgung zukommen lasse, trage ich zur Stabilisierung ihres Lebens bei. Das ist meines Erachtens eine sehr einfache Rechnung.» Wenn ­jemand ohne Perspektiven und ohne Versorgung aus dem Strafvollzug entlassen wird, steige die Gefahr neuerlicher Straffälligkeit, ist der Kriminologe überzeugt. Laut Hammerschick war damals auch die Einbeziehung der Gefangenen in die Pensionsversicherung für einen späteren Zeitpunkt in Aussicht gestellt worden. Das war vor 25 Jahren. Kranken- und pensionsversichert sind Inhaftierte bis heute nicht. «Eine Pensionsversicherung für Gefangene wurde seitdem kaum mehr ernsthaft diskutiert», sagt ­Hammerschick. Er selbst fände sie ­heute noch immer «gut und richtig».
Ähnlich sehen dürfte dies ein Mann, der sich selbst «Einbrecherkönig» nennt. Ernst Stummer hat in Summe 28 ­Jahre hinter Gittern verbracht und dort ­viele Jahre lang in der Gefängnisbäckerei ­geschuftet. Pensionsanspruch hat er trotzdem keinen, er konnte ­keine 15 ­Jahre Arbeit in Freiheit nachweisen. Mithilfe seines Anwalts Armin ­Bammer klagte der Pensionist im Jahr 1999 die Republik. Das Verfahren ging bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), wo Stummer und sein Anwalt 2011 sinngemäß argumentierten: «Es ist diskriminierend, wenn Menschen in Haft Pflichtarbeit verrichten müssen und ihnen die ­entsprechende Versicherung dazu verwehrt wird, unter anderem die Pensionsversicherung», erinnert sich Bammer an seinen großen Auftritt in Straßburg. Dort trug er vor 17 Richter:innen vor, welche die Klage dann mit zehn zu sieben Stimmen ­abwiesen. «Es war also sehr kontrovers. ­Hätten nur zwei Richter anders entschieden, hätten wir gewonnen», so der Anwalt. Das ­Argument des EGMR: Es sei zwar zu empfehlen, Inhaftierte in die Pensionsversicherung einzubeziehen. Etwas mehr als die Hälfte der Europarats-Mitgliedsstaaten hätte dies auch damals schon getan. Der EGMR überließ eine Entscheidung darüber jedoch dem jeweiligen Mitgliedsstaat.

Politischer Unwille.

Fragt man im zuständigen Sozialministerium nach der Pensionsversicherung für Inhaftierte, wird sich auf Gerichtsurteile berufen, darunter jenes zum «Einbrecherkönig». Es ­liege keine Gleichheitsverletzung vor, weil der Freiheitsentzug ja «selbst verschuldet» sei. Was die Zukunft angeht, wird der Ministeriumssprecher dann doch noch deutlicher: «Eine Einbeziehung von Strafgefangenen in das System der gesetzlichen Pensionsversicherung ist aktuell nicht geplant.»
Bei den Parteien ist man auffallend zurückhaltend, was das Thema angeht. Die Bedürfnisse von Inhaftierten sind wohl kein Thema, mit dem sich positive Schlagzeilen machen lassen. Anfragen an Justizsprecher:innen bleiben unbeantwortet. Erst auf Nachfrage lassen zumindest die SPÖ und NEOS wissen, dass sie für einen Einbezug der Inhaftierten in die Pensionsversicherung wären.
Für Herrn Dachsberger aus St. ­Pölten würde eine solche Gesetzesänderung aber ohnehin keine Besserung mehr bringen. Besserung wünscht er sich vielmehr bei seinem körperlichen Zustand, zuletzt habe er abgebaut. Solange es geht, kümmert er sich heute um seinen Garten oder den seiner Nachbar:innen. Immerhin ist er ausgebildeter Landschaftsgärtner. «Es war immer mein Hobby, de gonze Pflanzlerei und Blumenglumpert», sagt er. Der Gedanke treibt ihm ein ­Lächeln auf die Lippen. Das habe ihn auch durch seine letzte Haftstrafe gebracht. In der Justizanstalt Göllersdorf hätte er die Pflege eines großen Parks und des Gartens über gehabt. «Dort hab i gehackelt, wie wenns meins wär», erinnert er sich zurück. Die Haft sei ihm so leichter gefallen, mit einer Aufgabe.
Armin Bammer, der Anwalt des Wiener «Einbrecherkönigs», sieht ­seine Aufgabe in der Stärkung der Menschen­rechte. Der Rückschlag in Straßburg liegt mehr als zehn Jahre zurück. «­Unter ­geänderten Umständen könnte eine erneute Klage durchaus erfolgsversprechend sein», sagt er. Hoffnung legt er auch in ein Papier mit dem sperrigen Titel Empfehlung des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze, eine Handlungsanleitung des Europarates zur Behandlung Gefangener, mit der Empfehlung «Arbeitende Gefangene sind so weit wie möglich in das staatliche Sozialversicherungssystem einzubeziehen». Auch eine Pensionsversicherung würde darunterfallen. Und möglich wäre eine solche in Österreich allemal. Es fehlt nur noch der politische Wille.

Die Namen der ehemals Inhaftierten wurden zur Wahrung der Anonymität durch die Redaktion geändert.

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