Nahversorgung, philosophischvorstadt

In der Kaiserstraße sind «dritte Orte» angesiedelt

Der «Philogreißler» in der Kaiserstraße lädt ein zum philosophischen Bücherschmökern, Kaffeetrinken und Diskutieren. Mehmet Emir (Fotos) und Helmut Neundlinger (Text) machten sich ein Bild davon, obwohl sie wissen, dass es nicht nur um Bilder geht …Die Kaiserstraße zählt nicht unbedingt zu den Gentrifizierungs-Hotspots von Wien-Neubau. Zu langgezogen, zu gürtelnah, zu räudig zieht sie sich von der Mariahilfer Straße bis zur Lerchenfelder Straße. Wer sich jedoch in den 5er setzt, wird staunen, was dieses vermeintliche Neubauer Mauerblümchen alles zu bieten hat: einen Second-Hand-Laden mit großartigem Buchsortiment, eine Klavierwerkstatt, eine Freitags-Essensausgabe für Bedürftige, ein Sozialmedizinisches Zentrum mit Kapazitäten zur Flüchtlingsbeherbergung, eine selbst unter Aida-Junkies als Geheimtipp firmierende Aida-Filiale, ein Theater, einen fantastischen Groß-und-Klein-Kleiderschuppen namens «Buntwäsche». Seit Mai ist die Kaiserstraße um eine vielschichtige Attraktion reicher: Im Haus Nummer 35 ist der «Philogreißler» eingezogen, gleich neben der legendären «Mizzitant» – schon rein fassadentechnisch ein herrlich anzuschauendes Hybrid aus «Good old style» und subtiler Neugestaltung. Während die Mizzitant mit üppigen Bierbannern Flagge zeigt und durch die wuchtige Verschalung fast ein wenig trutzig wirkt, entsteht beim «Philogreißler» allein durch die großzügige Glasfront ein steter Fluss der Kommunikation zwischen Innen und Außen.

Adorno als Trugbild

Philosophiert wird wohl auch bei der Mizzitant über alles Mögliche und Unmögliche. Beim «Philogreißler» aber hat man sich den Diskurs zum Programm gemacht. Man könnte diese Mischung aus Café, Buchhandlung und Diskussionsstube mit dem aus Mumbai stammenden Theoretiker Homi Bhabha als «dritten Ort» bezeichnen, in dem sich die Philosophie mit dem «wilden Denken» mischt, ohne jedoch in ein oberflächliches Lebenssinn-Geplauder abzugleiten. Entwickelt und umgesetzt hat den «Philogreißler» der 1978 geborene Gerd Fraunschiel gemeinsam mit seiner Frau Julia. Philosophisch «angefixt» wurde Fraunschiel im Schulunterricht, und das so gründlich, dass er später fürs Lehramtsfach PPP (Philosophie, Psychologie und Pädagogik) inskribierte. «Reine Philosophie zu studieren, dafür habe ich damals einfach nicht die Eier gehabt», erzählt Fraunschiel. «Heute denke ich mich mir, ich hätte es einfach machen sollen.»

Nach insgesamt vier Jahren im Schuldienst und einer längeren Planungsphase wagte Fraunschiel immerhin den Sprung in die Selbstständigkeit mit einem Konzept, das auf eine Begegnung mit jenen «School-of-Life»-Programmen zurückgeht, die in größeren Städten wie London oder Hamburg bereits erfolgreich laufen. «Diese Ansätze haben allerdings bei genauer Betrachtung mit Philosophie nichts am Hut», erklärt Fraunschiel. «Da handelt es sich vielmehr um clever vermarktete Lebensberatung. Ich habe in Hamburg einen Kurs mit dem Titel ‹Ich — nur besser› besucht. Da ging es um eine Art Selbstoptimierung in fünf Schritten, und dazwischen wurde einmal ein Bild des Philosophen Theodor Adorno gezeigt, aber das war eigentlich an den Haaren herbeigezogen.»

Fraunschiel schwebte in seinem Konzept von Beginn an etwas anderes vor. Im Gespräch benutzt er mehrmals das Wort «Bühne», die dazu dienen soll, bestimmten Inhalten und Artikulationen Raum zu geben. «Eine befreundete Designerin hat es so formuliert: Der Ort definiert sich dadurch, dass er gebraucht wird. Das heißt für mich, dass ihn vor allem die Menschen definieren, die ihn nutzen», sagt Fraunschiel. Ein Blick auf das Herbstprogramm zeigt, dass die Definition im Fluss ist, aber bereits starke Konturen annimmt. Schwerpunktmäßig finden sich erfreulich viele politische Themen und Aspekte wie das «Wildern in der Stadt» oder die Kritik an den gesellschaftlichen Fetischen Arbeit und Wirtschaftswachstum. «Am allerliebsten würde ich selber wieder einen Workshop halten», bekennt Fraunschiel. «Aber ich habe die Arbeit zwischen Café, Buchhandlung und Veranstaltungsorganisation doch unterschätzt. Derzeit komme ich wirklich nicht zum Philosophieren.»