«Wiener Wäsche»: Diesmal Marcel
Marcel, 20 – Wiener mit deutsch-polnischen Wurzeln – ist mir wegen seines Tattoos am Nacken aufgefallen: «HUMAN» – «menschlich» – steht dort deutlich geschrieben (Ich bin auf Nacken-Schrift-Tattoos geeicht, seit ich zu meinem Entsetzen einmal einen Mann mit dem Wort «ARIER» in Frakturschrift erblickt habe).
Marcel reagiert sehr offen auf mein Interesse, ihn für Wiener Wäsche zu porträtieren, denn schließlich ist er auch anderes gewöhnt: Viele würden verständnislos, befremdet, aber auch körperlich aggressiv auf seine Stylings reagieren, was ihn unheimlich nerve. «Manchmal wollen sie dich auffressen mit ihren Blicken. Ich ziehe mich einfach nur entsprechend meiner Stimmung an und denke mir dazu eine Geschichte aus.» Zum «Human»- Tattoo falle manchen Leuten allenfalls «Humana» ein. Dabei hätten ihn Philosophen dazu inspiriert, «die sich über das Menschsein Gedanken machen, aus dem die Menschen ausbrechen wollen, um höheres Bewusstsein zu erreichen».
Marcel wirkt ungewöhntlich reflektiert und ganz schön erfahren für sein jugendliches Alter. Nach jedem Abschluss einer Lebensphase lasse er sich ein Tattoo stechen, was für ihn jeweils für Veränderung stehe. «Also ändere ich dann jeweils auch meinen Style. Ich war schon auf Gothic, Hipster oder auch Indie … Das passiert zirka dreimal im Jahr. Mit 15 hat das angefangen.»
Er findet, dass die meisten Leute äußerlich angepasst wirken, es sei halt einfacher, wenn man nicht auffällt. Tatsächlich scheint während der letzten, sagen wir zwanzig Jahre Kleidung hierzulande braver, angepasster und einheitlicher geworden zu sein. Macht das die Angst davor, nicht akzeptiert zu werden, keinen Arbeitsplatz zu finden, oder haben wir schlicht und einfach weniger Muße, um uns ein wenig schräg zu stylen? Sieht man etwa keinen Sinn mehr darin, Kleidung als Mittel zu verwenden, ganz körperlich und direkt einen Kommentar zu Gesellschaft und Politik abzugeben?
Auf Marcels Körper ist noch so einiges zu lesen, zum Beispiel, dass Musik sein Lebenselexier ist. Auch will er sich selbst immer wieder daran erinnern, was zu tun ist: «Keep calm» oder «I am free» steht auf einem Handgelenk bzw. auf einem seiner Finger. Ethisches Bewusstsein beweist der eigenwillige, junge Mann, indem er sich schon lange Gedanken über Produktionsweise bzw. Materialien seiner Kleidung macht. Marcels große Leidenschaft ist die Modefotografie. Diese zu seinem Beruf zu machen wäre ebenso eine Vision für seine Zukunft wie die Musik; immerhin hat er acht Jahre Gesangsunterricht inklusive einer «Popstars»-Audition hinter sich. Derweil versucht er sich als Student der Theater-, Film- und Medienwissenschaften und bloggt seine Fotos zum Thema Mode.
Marcels Blog: www.hallmarkspray.tumblr.com
TIPP! Ein interessanter Flohmarkt, bei dem jede Menge guter Kleidung (und anderes) zu bewusst sozialen Preisen angeboten wird: Pfarre Maria Hietzing, Am Platz 1, 1130 Wien am Sa., 5., und So., 6. 10., 9-16 Uhr.