Neues Jahr, neue Sozialpolitik?tun & lassen

Was macht Politik sozial? Sozialexpertin Michaela Moser spricht mit Lisa Bolyos darüber, wie armutserfahrene Menschen Politik mitgestalten könnten, warum Erwerbsarbeit oft über­bewertet wird und was uns im Jahr 2020 sozialpolitisch erwartet.
Foto: Michael Bigus

Sozialpolitik – was ist das eigentlich?

Ich rede lieber von einer Politik des Sozialen, denn eigentlich sollte die gesamte Politik mit allen ihr zur Verfügung stehenden Maßnahmen das Soziale fördern, und das bedeutet: das gute Leben aller, die Reduzierung von Ungleichheit, den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft. Die Armutsforschung definiert Armut als Mangel an Möglichkeiten – diese Möglichkeiten für alle Menschen zu schaffen, muss Ziel einer Politik des Sozialen sein, und das geht weit über Sozialpolitik im engeren Sinn hinaus.

Was bedeutet eine Politik des Sozialen in dem Moment, in dem wir es mit dem Programm einer türkis-grünen Regierung zu tun bekommen?

Man muss sich das ganze Regierungsprogramm anschauen, nicht nur die Sozialagenden. Der Irrtum ist zu denken, man könnte auf der einen Seite ein bisschen sozial sein und daneben eine Unzahl unsozialer Maßnahmen ergreifen. Im neuen Regierungsprogramm gibt es ein Kapitel zu Armutsbekämpfung. Daran lässt sich anknüpfen, auch wenn wir vorerst nicht wissen, ob es mehr sein soll als Symbolpolitik. Jeder einzelne Punkt, der Potenzial zu einer positiven Veränderung hat, ist für die Betroffenen wichtig – wenn sich etwa im Privatkonkursrecht etwas zum Besseren ändert, macht das für manche Leute einen großen Unterschied. Gleichzeitig muss man genau ermessen, inwiefern Einzelmaßnahmen nicht vom Gesamtprogramm konterkariert werden.

Mitte Dezember hat der Verfassungsgerichtshof zwei Bestimmungen des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes – Stichwort Sprachkenntnisse und Mehrkindfamilien – als verfassungswidrig aufgehoben. Ist jetzt alles in Ordnung?

Die Mindestsicherung war schon vor der Sozialhilfereform völlig unzureichend. Die Korrekturen, die jetzt vorgenommen werden müssen, sind keine Verbesserungen, sondern die teilweise Rücknahme von Verschlechterungen.
Einmal wird der Versuch zunichtegemacht, den Bezug von Sozialhilfe mit relativ hohen Deutsch- oder Englischkenntnissen zu verknüpfen. Das sei unzulässig, weil man diese Sprachkenntnisse in vielen Branchen schlicht nicht brauche.
Dass man Sozialhilfebezüge an Sprachkenntnisse koppelt, verstehe ich als Teil einer Politik, die Möglichkeiten und Wege sucht, unter Ignoranz menschenrechtlicher Fragen gegen Asylwerber_innen und Migrant_innen aufzutreten und zu zeigen, dass man ihre Lebensbedingungen so schlecht wie möglich machen will. Dabei wird an einer Gruppe exerziert, was sich durch die gesamte Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zieht: das Prinzip von Leitung und Sanktionen. Vermittelt wird dabei, man müsse sich die Mindestsicherung erst verdienen, und bei Problemen geht es nie um das System, sondern um die einzelne Person und ihre fehlende Leistungsbereitschaft. Das ist ein fundamental falscher Zugang, denn es wäre besser, sich anzuschauen, wie gesellschaftliche Ausschlüsse produziert werden. Wie es dazu kommt, dass Menschen keine Erwerbsarbeit haben, was man strukturell dagegen tun kann und auch, welche anderen Formen der Einkommenssicherung möglich sind. Man muss das Problem an der Wurzel packen und das System ändern.
Restriktionen werden gemeinhin als Mittel verkauft, das Menschen daran hindern soll, das Sozialsystem auszunützen.
Das fällt in die Reihe Mythen und Märchen: «Leute kommen, um das Sozialsystem auszunützen», oder «Leute wollen gar nicht erwerbsarbeiten». Für beide Mythen gibt es zu wenig Evidenz, die über das Anekdotische – ich kenne wen, der … – hinausgeht. Viele wollen einer Erwerbsarbeit nachgehen, und wenn nicht, müsste man mal einen Moment überlegen, ob das eigentlich so dramatisch ist. Schließlich gibt es in einer Gesellschaft genug andere sinnvolle Tätigkeiten. Und sollte Europa wirklich dafür bekannt sein, bessere Sozialsysteme zu haben als der Rest der Welt, dann ist das doch prinzipiell positiv. Wie viele Menschen integriert werden können, ist primär eine Verteilungsfrage – und um die drückt man sich gern herum. «Es ist genug für alle da», ist ein Slogan der Armutskonferenz. Entscheidend ist, dass man nicht in der Perspektive des Mangels verharrt.

Das zweite VfGH-Urteil bezeichnet die gestaffelten Höchstsätze für Kinder als «verfassungswidrige Schlechterstellung von Mehrkindfamilien». Ändert das etwas an der Armutsgefährdung von Kindern?

Wie bereits gesagt: Für die einzelnen betroffenen Familien macht so eine Maßnahme einen Unterschied. Und es ist wichtig, dass hier gerichtlich festgestellt wird, dass nicht alles durchgeht und man nicht die einen Kinder gegenüber den anderen diskriminieren kann. Aber ein maßgeblicher Schritt zur Bekämpfung von Kinderarmut ist es nicht. Da braucht es weitere Schritte wie etwa Kindergrundsicherung in entscheidender Höhe.

Wird es die unter einem Sozialminister Anschober geben?

Im Regierungsprogramm steht davon nichts, aber ich lasse mich gern positiv überraschen. Die Zivilgesellschaft muss zweifellos weiterhin Druck machen, das gilt für den gesamten Bereich der Armutsbekämpfung, der sehr viel offenlässt.

Das Problem an der Wurzel packen – was würde das im Fall von Altersarmut bedeuten?

Das Regierungsprogramm schlägt ein paar Maßnahmen vor allem gegen die Altersarmut von Frauen vor. Ein systematischer Ansatz würde aber verlangen, ernsthaft an den Gründen anzusetzen, die für Altersarmut von Frauen verantwortlich sind: die gesellschaftliche Zementierung der Geschlechterrollen, die Aufteilung der unbezahlten Arbeit, der Gender Pay Gap und eine Reihe anderer Diskriminierungen am Arbeitsmarkt. Wird das neue Frauenministerium fundamental etwas daran ändern, dass Frauen den größten Teil von Kinderbetreuung und Angehörigenpflege machen? Wird es eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung geben? Wird das Pensionssystem vom Erwerbseinkommen mit all seinen potenziellen Unterbrechungen für Sorgearbeitszeiten entkoppelt? Ich bezweifle es.

Wir haben erstmals in der Geschichte ein grünes Sozialministerium, und dem wurden die Arbeitsagenden entzogen. Zufall?

Wenn die Neuverteilung der Kompetenzen darauf abzielt, Arbeitnehmer_innenrechte zu schwächen, muss man sich dagegen wehren. Ich bin nicht per se dagegen, Sozialleistungen weniger stark an Erwerbsarbeit zu knüpfen. Was ich auf paradoxe Weise interessant finde, ist dass einerseits die Arbeitsagenden aus dem Sozialministeriums herausgelöst und dem Familienministerium überantwortet werden, andererseits das Sozialsystem weiterhin vollkommen auf dem Zugang zu Erwerbsarbeit aufbaut, ganz so, als würde Erwerbsarbeit in jedem Fall am besten vor Armut schützen.

Was schützt vor Armut?

Eine Politik des Sozialen, die auf bessere Verteilung und mehr Möglichkeiten für jene, die derzeit ausgegrenzt werden, setzt. Wir haben ein Sozialsystem, das – wenn auch mit Abstrichen – für eine gewisse Umverteilung sorgt. Aber daneben haben wir auch ein Steuersystem, das das viel zu wenig tut. Da müssen wir ansetzen. Es gibt in Österreich viel zu viel von dem, was der Reichtums­experte Martin Schürz als «Überreichtum» bezeichnet. Vermögenssteuern wären ein guter Ansatz, aber natürlich stehen die fundamental jener Politik entgegen, die in den letzten Jahren – sei es aus Hemmung oder aus gezieltem Interesse – angetreten ist, nach oben statt nach unten umzuverteilen.
Nach oben umverteilt wird unter anderem am Immobilienmarkt. Was würde eine Politik des Sozialen im Wohnsektor bedingen?
Im Regierungsprogramm steht einiges über leistbares Wohnen. Offen bleibt, was geplant ist, um Wohnungslosigkeit substanziell zu bekämpfen. Es gibt da ein schönes Beispiel aus Finnland, das medial so gut abgedeckt war, dass man keine Expertin sein muss, um es zu kennen: Housing First. Das würde in Österreich bedeuten, dass man neben Hilfssystemen wie Notschlafstellen, Heimen usw. vor allem dafür sorgt, dass jede Person Zugang zu selbstbestimmtem Wohnraum hat. Und, wo nötig, auch zu entsprechender Betreuung oder Unterstützung. In der Armutsbekämpfung ist das ein sehr wichtiger Schritt, denn mit einer adäquaten Wohnsituation kann man sich leichter um Erwerbsarbeit kümmern, man ist weniger gesundheitsgefährdet, und auch viele Bürger_innenrechte erfordern eine stabile Meldeadresse.

Warum traut sich das kapitalistische Finnland da drüber und Österreich nicht?

Finnland hat trotz neoliberalem Kapitalismus eine starke soziale Komponente und setzt dabei auf Infrastruktur und Dienstleistungen. Im finnischen Wohlfahrtsregime ist das Prinzip der Selbstbestimmung stärker verankert, während Österreich eher einer Tradition folgt, bedürftige Menschen zu kontrollieren, und das ist in der eigenen Wohnung weniger möglich als in einer Unterkunft, die Auflagen unterliegt.

Inwiefern sollten Armutsbetroffene bei sozial­politischen Entscheidungen mitsprechen können?

Es gibt Gremien mit beratender Funktion – etwa die Armutsplattform im Sozialministerium, und im Regierungsprogramm steht auch etwas von einem noch einzurichtenden Unterausschuss zur Armutsbekämpfung. Dazu müssen einschlägige Organisationen, aber insbesondere Menschen mit Armutserfahrungen selbst eingeladen werden, und zwar nicht als Alibiaktion, sondern so, dass ihre Worte Gewicht haben. Es gibt international Beispiele – etwa aus Schottland –, die belegen, wie so etwas gut funktionieren kann, und auch wir als Armutskonferenz haben mit dem «Parlament der Ausgegrenzten» mehrfach für direkten Austausch zwischen Armutsbetroffenen und politischen Entscheidungsträger_innen gesorgt. In solchen Gremien wächst nicht nur die gegenseitige Anerkennung, sondern man kommt auch zur Erkenntnis, dass viele Armutsbetroffene sehr gute Vorschläge zur Verbesserung der eigenen Situation haben. Die Grünen haben immer wieder gesagt, dass sie diese Formate gut finden, daran wird man sie erinnern müssen.

Solche Gremien könnten auch Feedback-Funktion haben, sodass Politiker_innen am direktesten Weg erfahren, wie sich etwa die Sozialhilfe Neu auswirkt – und dann nachbessern können.

Die Frage der Mitgestaltung von demokratischen Prozessen und die Einbeziehung von denen, deren Stimmen oft nicht gehört werden, ist ein sehr großes Thema. Das könnte man an ganz vielen Beispielen angehen: aktuell etwa bei der Ausgestaltung des geplanten Öffi-Tickets. Wie kann der Mobilitätszugang für Menschen mit Armutserfahrung gestärkt werden? Denn selbst wenn das geplante Ticket günstig ist, für Mindestsicherungsbezieher_innen bleibt es unleistbar. Entweder kommt man also zu dem Schluss, dass der öffentliche Verkehr für alle gratis sein muss, oder man muss dafür sorgen, dass das Einkommen reicht, und das entsprechend auch in der Sozialhilfe vorsehen.

Angenommen, in der laufenden Legislaturperiode ließe sich eine Handvoll Dinge umsetzen, die sich auf die soziale Gerechtigkeit auswirken – welche sollten das sein?

Erstens, Einkommensverteilung: Ich würde mich bei den Mindesteinkommen durch Arbeit oder Sozialleistungen an den Referenzbudgets der Schuldnerberatungen orientieren, die berechnen, was man in Österreich braucht, und damit weit über den aktuellen Beträgen der Sozialhilfe liegen. Umgekehrt würde ich den Überreichtum durch Maßnahmen wie Vermögenssteuern begrenzen.
Zweitens, Arbeit: Erwerbsarbeit und unbezahlte Arbeit muss ganz anders verteilt werden. Arbeitszeitverkürzung wäre dabei ein wichtiger Hebel, kombiniert mit existenzsichernden Einkommen. Nehmen wir den Sorgebereich als Beispiel: Hier muss sich die Bewertung der Arbeit fundamental ändern und sich entsprechend auch monetär abbilden.
Drittens, Infrastruktur: Es muss für alle einen guten Zugang zu Mobilität, Bildung, Gesundheitsversorgung, aber auch zu Beratungs- und Unterstützungsleistungen geben.
Und viertens, Teilhabe: Es braucht die Möglichkeit, mitzugestalten und dabei ernst genommen zu werden. Alle Maßnahmen und Strategien müssen auf ihre soziale Verträglichkeit geprüft werden.

Sind das Utopien oder ein ganz normales Regierungsprogramm?

Utopisch ist das überhaupt nicht. Einige Teile davon kann man in anderen Ländern ja sehen. Das wäre mehr oder weniger ein «ganz normales» Programm, das einen guten Ausgangspunkt für wirkliche Utopien bietet.

Michaela Moser ist Dozentin und Wissenschaftlerin an der FH St. Pölten und Aktivistin der Armutskonferenz.