Kraxeln und hüpfen im öffentlichen Raum
Eine Bank zum Sitzen, eine Wand, die abgrenzt – klare Funktion. Gleichzeitig bieten sich Stadtstrukturen auch für andere Nutzungen an. Urban Boulder und Parkour sind Beispiele dafür. Von Lisa Puchner (Text und Fotos).
Während oben die Automassen vorbeirauschen, ziehen auf unterer Ebene die Wassermassen vorbei. Dazwischen hat sich das Ufer des Wiener Donaukanals zu einem beliebten Freizeit- und (durch zunehmende Kommerzialisierung herausgeforderten) Freiraum-Gebiet entwickelt. Die Radfahrenden navigieren möglichst kollisionsfrei durch Dahinflanierende, Fußgänger_innen streben mehr oder weniger zielstrebig ihre Ziele an. Viele sitzen auf den Stühlen der Bars, manche auf dem warmen Asphalt am Uferrand, Einige auf den Bänken. Mit Spraydosen Ausgerüstete widmen sich der «Verbuntung» der Mauern entlang der Uferbefestigung. Auf Höhe des Schottenrings erwecken aber nicht Graffiti die Aufmerksamkeit. Auf Seite des zweiten Bezirks, wo eine Stiege vom Kanal zur Straße und Augartenbrücke hinaufführt, klammern sich Finger an Leisten und Unregelmäßigkeiten der Steinwand fest. Eine bunte Gruppe in Sportkleidung fiebert inmitten von Kletterschuhen, Crashpads und mitgebrachter Jause mit der Kletterin an der Wand mit – es ist Urban Boulder Cup 2018. «Bei mir hat sich die Flex-Wand quasi als meine Hauswand etabliert, weil ich da gleich ums Eck’ wohn», meint einer der Kletterer. Die «Flex-Wand» – benannt nach dem gegenüberliegenden Musikclub – ist einer der beliebteren Kletter- bzw. Urban-Boulder-Treffpunkte in Wien. «Einige Passanten sprechen einen natürlich an, manchmal überwiegt das Erstaunen, weil eben nicht bewusst ist, wozu man Wände eigentlich noch nutzen kann.» Denn die gebaute oder natürliche Umgebung im öffentlichen Raum bietet sich auch für nicht ganz vorgesehene Verwendungszwecke an. Urban Boulder, das Klettern an und entlang städtischer Architektur, sowie Parkour und Freerunning, die effiziente oder kunstvolle Überwindung von Hindernissen, sind Beispiele für solche Nutzungen.
Stadt als Klettergebiet erkunden.
«Das sind Orte, die oft unbeachtet sind: irgendwelche Verkehrsrampen oder Uferverkleidungen, wo die Leute einfach vorbeigehen und wir das Kletterpotenzial darin sehen», meint Philipp Stromer. Vor rund acht Jahren gründete er die Plattform urban-boulder.com, um Informationen, Routen und Spots der Urban-Boulder-Community zu bündeln. Seit 2011 veranstaltete er gemeinsam mit Kletterbegeisterten jährlich den Urban-Boulder-Cup an verschiedenen Orten Wiens. Gute Klettergebiete sind Stadtteile, wo es viele Verkehrswege, Hochbahnen oder Wasserwege gibt: Donaukanal, Handelskai oder direkt über dem Wasser am Reichsbrückenpfeiler. Granitwände, Steinwände, Stahlstrukturen, die es vertragen, beklettert zu werden, wo kein Schaden an der Substanz entsteht. Natürlich gibt es auch No-Gos: im Wurstelprater, bei Denkmälern, Kirchen, auch Privateigentum ist schwierig. Man müsse einfach sensibel sein, wo man klettert, so Stromer. Denn Urban Boulder wird abseits städtischer Regulation oder kommerzieller Ausrichtung, selbstständig und eigenverantwortlich praktiziert. Es geht darum, mit Freundinnen und anderen Kletterbegeisterten an einen bekannten oder neu entdeckten Spot zu fahren, sich im öffentlichen Raum zu treffen und diesen auch fürs Klettern zu beanspruchen. Und wenn die Polizei kommt, dann ziehe man gegebenenfalls eben weiter. Es hat schon ein bisschen den Reiz des Verbotenen, obwohl man ja nichts Illegales macht, meint eine der Kletterinnen: «So etwas macht das Stadtleben einfach bunter, und zeigt, welche Möglichkeiten es gibt. So wie Klettern ganz allgemein aufzeigt, dass wesentlich mehr möglich ist, als wie man sich denkt.»
Kreative Auseinandersetzung.
Um das Aufzeigen von Möglichkeiten geht es auch im Andreas-Park, einem beliebten Spot für Parkour-Trainierende. Hier hüpfen nicht nur Kinder auf dem Spielplatz, sondern auch Erwachsene von Mauer zu Mauer. «Es ist die kreative Auseinandersetzung mit Stadt-Architektur», meint Fabian Janicek, einer der Traceure – so werden Parkour-Trainierende genannt. Entstanden ist Parkour laut gängiger Erzählung aus einer militärischen Trainings- und Fluchtmethode. In Pariser Vorstädten entwickelte es sich dann in den 80ern zur urbanen Trendsportart. Heute stehen Parkour und Freerunning in ihrer medialen Präsenz für eine der spektakuläreren Formen beweglicher Umdeutung der Stadt als «Spielplatz». Das Gefühl individualisierter Freiheit wird dabei so gut transportiert, dass nicht umsonst unzählige Werbespots, die dieses urbane Lebensgefühl für kommerzielle Zwecke verwerten, über Dächer und Mauern springende Artist_innen zeigen. Eigentlich passiert der Großteil des Trainings aber am Boden. Aufwendigeren «Challenges» gehen unzählige Präzisionssprünge und oft jahrelanges Training voraus. Auch geht es weniger um Leistung oder Wettbewerb, sondern vielmehr um das spielerische Erfahren der eigenen Fähigkeiten und Grenzen und um Risikoabwägung, erklärt David Schessl. Vor allem muss beim Training im öffentlichen Raum oder in Innenhöfen mit dem gearbeitet werden, was vorhanden ist. Im Gegensatz zur Halle, wo man die Hindernisse an die Skills anpassen kann, muss man sich beim «Hüpfen» draußen entlang der eigenen Verfassung und Kreativität an die Stadt anpassen. Dabei spielt auch Respekt im Umgang mit der Umgebung eine Rolle. Trotz zunehmender Bekanntheit bestehen Vorurteile, z. B. dass Parkour-Trainierende alles zerstören. In Wirklichkeit, so Janicek, haben wir ja ein Interesse daran, an unseren Spots bleiben zu können, und achten daher auf diese bzw. reagieren entsprechend auf berechtigte Vorwürfe. Auch Pamela Forster, die Parkour und Freerunning zu ihrem Hauptberuf gemacht hat, meint, dass man oft nur mit den Leuten reden müsse. So erzählt sie von einer Situation in einem Innenhof, wo eine Anwohnerin damit drohte, die Polizei zu holen. Auf Nachfrage erklärte die Frau, dass öfter Leute herkämen und «einbrechen übten». Nachdem Forster ihr erklärte, dass das natürlich nicht die Absicht ist und was Parkour eigentlich ist, habe sie sehr viel Verständnis gezeigt.
Abseits vorgegebener Wege.
«Auf dem Weg durch die Stadt wird jeder Randstein, jeder Mauervorsprung als potenzieller Spot für Parkour registriert», meint Schessl. Auch beim Urban Bouldern müssen die Routen erst gefunden werden, was einen kreativeren Blick auf den städtischen Lebensraum provoziert. Das «Hüpfen» und das «Kraxeln» in der Stadt stehen hier stets in der Spannung zwischen den Sicherheitsinteressen der Behörden, allgemeinen Nutzungskonventionen und dem Bedürfnis, sich frei zu bewegen und auszuleben. Diese sportlichen und nicht vorgesehenen Beanspruchungen von Baustrukturen interpretieren dabei vordefinierte Gefüge neu und holen Orte unter Umständen aus der Monofunktionalität heraus. Und verstärken so schließlich auch die Lust, Stadt selbst abseits vorgegebener Wege zu beschreiten und zu (er)finden.
Dieser Text entstand u. a. auf Basis einer Sendung
für Radio dérive: https://cba.fro.at/382642