Neun Stunden „Tauziehen“ auf der BrückeDichter Innenteil

Tagebuch einer Befreiungsaktion. Teil 3

Die Medizinstudentin Barbara aus Wien hatte im Jänner 1979 auf einer USA-Rundreise die Vereinigungskirche, besser bekannt als Mun-Sekte, in San Francisco (SF) kennen gelernt und wurde Mitglied. Ihre Eltern, Johanna und Roman, und Barbaras Freund Fritz reisten, kurz nachdem sie davon erfahren hatten, nach San Francisco, mit der Absicht, sie zur Rückkehr zu bewegen. Je länger jemand Mitglied der Mun-Bewegung ist, hatten sie erfahren, desto schwieriger sei es, dass Munies freiwillig die Bewegung wieder verlassen. Die Mun-Bewegung wendete damals in der Anwerbung von Mitgliedern Techniken an, die als extrem manipulativ bezeichnet werden und bei AussteigerInnen starke Schuldgefühlte und schwere psychische Krisen auslösen können.Freitag, 3. April 1979

Um sieben Uhr läuteten wir beim Camp an. Es kam ein junger Mann heraus. Er sagte, ja, Barbara sei da, sie schlafe aber noch. Wir könnten sie später sprechen.

Das Areal war durch einen Fluss von der Straße getrennt. Eine ca. 10 Meter lange Fußgängerbrücke führte ins Camp hinein, ein weitläufiges umzäuntes Gelände, wie eine Farm mit mehreren großen und einigen kleineren Wirtschaftsgebäuden, dazwischen viel Grün. Es herrschte reges Leben und Treiben, und wir konnten uns nicht denken, dass gerade Barbara noch schlafen sollte. Um halb acht hieß es dann, Barbara sei munter und sie freue sich schon, uns zu sehen. Nach 10 Minuten bangen Wartens kam sie. Aber wie sah sie aus! Sie kam mir vor wie in Trance. Sie hatte Jeans und den roten Anorak an, in der Hand eine rote Rose. Vor ihr ging ein junger Mann und neben ihr ein zweiter, Nicholas. Er ließ sie keinen Augenblick aus den Augen. Sie rief Mutti und ging langsam auf uns zu. Ich hatte mir vorher geschworen, das Camp nicht zu betreten. Da sie den Munies versprochen hatte, nicht weiter als bis zur Hälfte der Brücke zu gehen, ging ich ihr natürlich entgegen.

Als ich in ihre Augen sah, fuhr mir der Schreck durch die Glieder. Ich habe noch nie Ähnliches gesehen. Die Augen flackerten hin und her, und das dauerte ungefähr eine Stunde, glaube ich, bis sie wieder normal schaute. Wir hielten uns lange in den Armen, wenn ich jetzt darüber nachdenke, weiß ich nicht einmal mehr: Hat sie geweint oder nicht? Dann lief sie zu Vati. Meine Gedanken überstürzten sich. Ich wies sie auf Fritz hin. Sie sah ihn wohl, aber gleichzeitig ich weiß nicht wie ich sagen soll sah sie ihn auch wieder nicht. Dann redeten wir auf sie ein, wie sehr wir sie alle liebten und vermissten und beschworen sie, doch mit uns zu kommen. Sie wollte uns dazu bringen, mit ihr hineinzugehen, doch ich blieb stur. Vati hätte schon bald nachgegeben, weil Barbara Hunger hatte. Doch ich blieb fest nein! Sie bettelte, kommt mit, schaut euch das an. Nein! Und im Endeffekt war das die richtige Entscheidung. Zirka um 11, also nach dreieinhalb Stunden, brachten sie Sessel und Orangenjuice. Ich setzte mich nicht und trank auch keinen Schluck, obwohl der Durst schon groß war. Roman redete und argumentierte weiter mit ihr, ich machte eine Pause. Plötzlich sah ich, dass Roman heftig weinte. Also dachte ich, jetzt ist es aus. Ich muss wieder hin. Wir redeten, debattierten und beschworen sie. Dazwischen immer wieder längere Zeiten des Schweigens. Plötzlich sagte Nicholas, Barbara solle zehn Minuten mit ins Camp kommen. Aus den zehn Minuten wurde eine Stunde. Wir waren verzweifelt. Wir hatten ja gesehen, dass sie litt, aber sie konnte offenbar nicht anders. Als sie wieder kam, sagte sie uns, sie habe Gott versprochen, das Camp nicht zu verlassen. Das war das Ärgste. Da konnten wir ihr sagen, was wir wollten, das wurde uns jetzt klar. Vati argumentierte, ob sie glaube, dass Gott wollte, dass sie ihr Studium unterbreche? Sie sagte immer, ich studiere weiter, so viele hätten weiter studiert. Dann gebt uns die Adressen von denen. Barbara bestand auch darauf. Also ging Nicholas hinein und brachte uns einen Zettel mit drei Adressen, aber keine in SF. Ich sagte, wir würden das überprüfen. Auf meine Frage, warum Barbara immerzu auf die Uhr schaue, sagte sie, man habe ihr gesagt, um 14 Uhr solle sie Schluss machen, das sei lang genug. Jetzt holte ich Fritz, der war auch ganz verzweifelt. Jenny (Anm. d. Red.: Freundin der Familie) weinte. Barbara hat sie eigentlich noch gar nicht wahrgenommen.

Erste Zweifel tauchen auf

Fritz und Barbara redeten lange. Sie nahm ihn ganz fest an der Hand und da schöpften wir schon Hoffnung. Doch immer wieder kam Nicholas, wir sollten jetzt endlich gehen oder mitkommen. Man könne nicht so lang auf der Brücke stehen. Aber wir gaben nicht nach. Dann begann ein erregtes Gespräch zwischen Nicholas und Jenny, er nannte sie eine Lügnerin und falsch und weiß Gott was noch alles. Denn Jenny hätte bei ihrem Besuch im Mun-Center vor einigen Tagen nicht erzählt, dass auch wir in SF seien. Daraufhin erzählten wir von den vielen Telefongesprächen, dass wir Barbara nie erreicht hatten. Und diese Telefonate waren auch ein Teil unserer Rettung. Denn nun begann Barbara nachzudenken und sah einen Widerspruch in dem, was ihr erzählt worden war. Das wollte Barbara nun unbedingt klären. Also hieß es, sie solle mit hineingehen, um das zu klären. Sie kam lange nicht wieder. Wir warteten und warteten und glaubten schon alles verloren. Dann sahen wir sie im Garten sitzen. Barbara mit dem Gesicht zur Straße. Und drei andere redeten unentwegt auf sie ein. Mary, Nicholas und David. Eine halbe Ewigkeit.

Auf der Brücke ging es immer sehr lebhaft zu. Immer wieder gingen Leute vorbei, hängten Schlafsäcke auf, gingen rein und raus. Sie waren immer um uns. Auch unter der Brücke im Fluss standen sie, ein Auto kam, fuhr wieder fort, kam wieder. Immer wieder wurde gesungen. Am anderen Ende der Brücke saßen einige auf Stühlen und sahen zu uns her. So ging das die ganz Zeit.

Wir warteten und dachten eigentlich schon, alles wäre aus. Wenn sie zu dritt auf sie einreden, könne sie sicher nicht widerstehen. Doch sie kam wieder, mit Dave und Nicholas an ihrer Seite. Jetzt ging es erst richtig los. Wir auf der einen Seite, die anderen neben ihr. Wir redeten und redeten wie in einem Duell und Barbara, die Arme, in der Mitte. Es kam mir so vor wie beim Seilziehen. Furchtbar! Zuerst ging es um die Telefongespräche, dann versuchten wir sie wieder zu überzeugen, komm doch mit uns, wir brauchen dich, willst du alle deine Freunde aufgeben, dein Studium, dein bisheriges Leben. Dann sagte sie schon ja, sie komme für ein paar Stunden mit, dann wieder Beschwörungen von Dave und Nicholas. Sie gingen nicht von Barbaras Seite, immer waren sie ganz nah bei ihr. Ich schimpfte mit Roman und Fritz, drängt ihn doch ab. Ich stand Barbara vis-à-vis und beobachtete sie. Ihr Mienenspiel. Sie sah nur auf Daves Füße, und er redete. Als sie dann ja sagte, ganz leise, wollte ich sie schon nehmen und sagte, bitte komm. Aber sie sagte, ich will es ihnen sagen. Roman meinte, dränge sie nicht so, sie will im Guten gehen. Dann sagte sie noch einmal: ja! Aber ganz leise. Und Dave redete wieder dagegen an. Ich fuhr ihn an und sagte, er sei nicht fair. Wenn, dann müssten beide Seiten still sein, er auch. Auf einmal wurde Barbara unruhig. Ich konnte mir nicht denken, was der Grund war inzwischen weiß ich es. Sie sah Stu unten am Fluss stehen. Sie hing sehr an ihm. Dadurch wurde sie wieder unsicher und überlegte wieder. Es war eine bittere halbe Stunde. Wir standen ganz ruhig in der Mitte, Barbara vis-à-vis, Nicholas und Dave an ihrer Seite, und schwiegen. Ich dachte immer wieder, ich halte es nicht mehr aus, machen wir Schluss. Aber alle schwiegen. Fritz sagte mir nachher einmal, er werde meinen Anblick nicht so leicht vergessen, ich war schneeweiß und meine Augen waren weit geöffnet und traten aus den Höhlen.

Überstürzter Aufbruch

Ich weiß es jetzt nicht mehr genau, ich glaube, sie sagte schließlich: I want to go with my parents. Ich zog sie sofort hinaus. Sie war steif wie ein Brett. Ich drängte sie hin zum Auto. Dave fing an zu schimpfen und schreien, ich weiß nicht mehr, was jetzt alles passierte. Die Männer waren total konfus. Fritz setzte sich ans Steuer, statt mir zu helfen. Vati sah ich nicht, Jenny war auch nicht da. Ich dachte, Fritz kann doch mit dem Auto gar nicht fahren, was tut er denn da! Dave war hinter mir her, als ich sie ins Autos zerrte. Er schrie, Barbara, dont go away, dont go away! Und was weiß ich noch alles. Er lief auf die andere Seite des Autos und griff schon von der anderen Seite auf Barbara herein. Den anderen hörte ich heftig auf das Auto schlagen. Ich schrie nach Fritz und Vati. Wer Dave schließlich wegdrängen konnte, weiß ich nicht. Jedenfalls saß plötzlich Jenny auf der anderen Seite neben Barbara, ich auf der einen, Vati am Steuer, Fritz daneben. Wir fuhren los. Wir waren alle aufgelöst, es war furchtbar. Barbara klammerte sich an mich und weinte und weinte. Wir glaubten den ganzen Weg, sie würden uns verfolgen, weil sie so aufgebracht waren. Wir hätten uns eigentlich umdrehen können, aber alle schrien, fahr, fahr, und wir fuhren, und keiner wusste, wohin. Nach einiger Zeit wechselte Fritz mit Jenny nach hinten, damit wir gemeinsam versuchen, Barbara zu beruhigen. Noch immer glaubten wir, sie wären hinter uns her. Diese Angst wollte und wollte nicht weichen. Eigentlich erst nach Tagen, als wir im Flugzeug saßen, ließ diese Spannung nach. Wir fuhren zirka eine Stunde südliche Richtung von San Francisco aus und übernachteten in einem Motel. Es war sehr schön am Meer gelegen. Roman und Jenny gingen gleich schlafen. Barbara wollte noch spazieren gehen, also gingen Fritz und ich mit, obwohl wir todmüde waren. Es war so schwierig, wir wussten nicht, wie wir mit ihr umgehen, was wir mit ihr reden sollten, denn sie war so leicht ungehalten. Alles was ich erzählte, sei nichts sagend, darüber wolle sie nicht reden etc. Und fragen trauten wir uns nicht.

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