Musikarbeiter unterwegs … ins Jahr 2023
«A Brief Moment in the Sun» ist das vierte Album der US-Band Soulside, Ende letzten Jahres erschienen. Gitarrist Scott McCloud lebt in Wien.
TEXT: RAINER KRISPEL
FOTO: MARIO LANG
Nichts gegen das hiesige Musikgeschehen, aber wegen der Selbstverliebtheit und Selbstergriffenheit der schönen Wiener Stadt entsteht mitunter der Eindruck, es würde nur die hier entstehenden Klänge gelten oder geben. Was kompletter Holler ist. Als lebenslanger Musikfan darf ich sagen, die Platten, die Musik, die mich wirklich erwischen, beschleunigter Puls, verstärkte Hirnaktivität und mehr, entstehen meist anderswo. Ende letzten Jahres sind zwei davon erschienen, ?0?? der Fehlfarben und eben A Brief Moment in the Sun von Soulside.
«Never seen times like these before».
Soulside habe ich im Mai 1989 erstmals live gesehen, in der Linzer Kapu, damals Scott kennengelernt. Ihr zweites Album Trigger war und bleibt ein großer Favorit, wilde freie Musik, in Hardcore verwurzelt, nicht nur rhythmisch weit über diesen hinausgehend. Erschienen auf Dischord Records, legendäres Label aus Washington D. C., dessen Platten am meisten zum häuslichen Platzproblem beitragen. Im November 1988 hatten die Soulside-Labelkollegen Fugazi, mit Dischord-Gründer und Betreiber Ian MacKaye gespielt. Beide Bands sind nicht nur musikalisch Offenbarungen, sondern ebenso inhaltlich wegweisend. Wunderbare, oft abstrakte und poetische Lyrics, dabei dicht und konkret durchzogen von Themen, die uns antrieben und beschäftigten: Vegetarismus und Veganismus, Feminismus, politische und persönliche Verhältnisse, das Agieren und Umgehen damit, im Kleinen wie im Großen, Protest, Widerstand, anderes, freies, gerechtes Leben. Soulside-Stimme Bobby Sullivan sang auf der Single Bass/103 eine ewige Lieblingszeile – «burn the eyes of the rulers!» Am Ende der dreimonatigen (!) Europatour nahm die Band in Eindhoven das Album Hot Bodi-Gram auf, löste sich mit dessen Erscheinen auf, ein (Post-)Emo-Manifest, bevor es Emo gab. Zu den Drums von Alexis Fleisig und dem Bassriff von Johnny Temple richtet uns Bobby im Opener «God City» aus: «This is God City, this is love parade, this is Mr. Fuckers last rites».
«It’s all about love».
Die Mr. Fuckers regieren dreißig Jahre später immer noch, ungenierter und hemmungsloser als je zuvor, im Großen wie im Kleinen. Wenigstens gibt es auch Soulside noch, oder wieder. Scott McCloud lässt in seinem «local Café» im Dritten, wo er unweit mit seiner Partnerin und ihren beiden Söhnen lebt, die Geschichte Revue passieren, wie es dazu kam. Ebenso weiter aktiv sind die Band Girls Against Boys, McCloud, Temple und Fleisig mit Eli Janney, der evil, more twisted twin von Soulside, bei denen Scott singt und sich durch Killer-Grooves/Riffs, metaphysisches und echtes Nachtleben pflügt, nicht zu vergessen Paramount Styles, sein Soloprojekt. Mitte der 2010er-Jahre konkretisierte sich in Washington D. C. die Fertigstellung von Banned in D. C., Film-Dokumentation der so vitalen wie diversen Punk/Hardcore-Szene der US-Hauptstadt. Soulside, alle vier Musiker immer noch befreundet, spielten zu deren Präsentation erstmals wieder zusammen. Es folgten weitere Gigs, auch in Europa, und schließlich die Arbeit an neuem Material. Verstreut über die USA und Wien per Mail- und File-Austausch, durch Covid und Lockdowns erleichtert, gut, etwas zu tun zu haben. Drei Songs wurden schnell in Prag aufgenommen, erschienen als Single, die zwölf Stücke von A Brief Moment in the Sun erstmals als physisches Quartett fünf Tage in Brooklyn geprobt, schließlich November 2021 in Baltimore aufgenommen, Jay Robbins, seinerseits in D. C. verwurzelter Musiker und Produzent, in charge, Ian MacKaye als «attendant» zwei Tage mit im Studio. Das Ergebnis dichtgewoben, kantig und warm zugleich, subtil, schichtenreich und doch zugänglich. Soulside schaffen das Kunststück neu und nach sich zu klingen, Bobby Sullivans Stimme und Lyrics das Herz der Platte, deren Titel von einem Buch über Black Reconstruction in America (1860 – 1880) abgeleitet, Sullivan ein leidenschaftlicher Studierender und Sympathisant diverser Bürgerrechts- und Emanzipationsbewegungen, was den Texten ihren einnehmenden Charakter – «this dissent can’t be stifled» («Survival») – verleiht. Im März touren sie in den USA, später im Jahr wieder in Europa, Wien-Termin möglich. «We’ll have a heart-to-heart, instead of going head to head – it’s all about love.»