Nicht alles kann man sich wünschenDichter Innenteil

(Illustration: Marlene Krause)

Die Schneeflocken tanzen am Fensterbrett. Es kommt eine seltsame Ruhe auf, die nur der Winter, wenn er die Umgebung in ein weißes Tuch hüllt, hervorrufen kann. Meine Augen blicken in den Innenhof, nichts anderes kann von diesem Blickpunkt aus gesehen werden, da die umliegenden Häuser es nicht zulassen. Die Autos meiner Kollegen und mein eigenes werden durch jede fallende Flocke weißer und sehen sich immer ähnlicher. Weihnachtliche Stimmung kann sich irgendwie nicht entfalten, meine Stimmung ist dem nicht gerecht. Wir schreiben heute den 22. Dezember, die Kinder können es kaum noch erwarten, die Bescherung ist zum Greifen nahe. Vielleicht gibt es einen kleinen Prozentsatz an Familien, wo das Wirtschaftliche, sprich Geschenke, nicht im Vordergrund stehen. Aber ich denke doch, dass das heutige Weihnachten nicht wirklich dem Ursprungsgedanken entspricht.
Wir wollten ein Zeichen setzen und Menschen, die es wirklich nicht einfach haben im Leben, Gutes tun. Wir hatten uns entschieden, körperlich und/oder geistig behinderte Kinder vor Weihnachten zu uns einzuladen. Ein Grad der Unsicherheit, ein Weg, der gerne ins falsche Denken führt.

Ja, wer sind wir und wo ist uns? Ich bin noch schuldig zu erklären, dass ich mich derzeit in meinem Zimmer der Hauptfeuerwache Hernals befinde. 34 Kollegen der Berufsfeuerwehr Wien versehen in diesem Gebäude tagtäglich Dienst und versuchen der Wiener Bevölkerung in vielen Belangen zu helfen.

Die Jahre zuvor sammelten wir immer wieder Geld für die eine oder andere Gemeinschaft, die eben solchen Kindern unter die Arme greift. Dieses Jahr wollten wir es anders machen und wir beschlossen in vielen gemeinsamen Diskussionen, dass wir uns eine Gemeinschaft, die im Bezirk tätig ist, aussuchen und zu einer Jause, wo wir eine Art Bescherung durchführen, einladen. Es wurde ein Kindertagesheim, das sich im Bezirk befindet.
Ich glaube, wir stellten uns das ein wenig einfach vor und ja, wir hatten null Erfahrung mit solchen Kindern. Schon die Ausdrucksweise mit «solchen» zeigt, dass wir diese Kinder im Alltag einfach mit anderen Augen sehen. Ich denke, genau das möchten sie nicht. Sie brauchen keine Ausnahmen, keine besondere Behandlung und übervorsichtige Fürsorge, aber man, oder besser gesagt wir, machten es einfach automatisch.

Aber gut, einmal der Reihe nach. Wir hatten also 15 Kinder und vier Betreuerinnen für den 22. Dezember eingeladen und die Vorbereitungen konnten beginnen. Die kulinarischen Entscheidungen waren noch die einfachsten. Da wir uns ja absolut selbstständig verköstigen, zweimal am Tag kochen und jede Art von Berufsgruppen bei uns tätig sind, war ein Zuckerbäcker nicht schwer aufzutreiben. Zwei verschiedene Torten waren schnell ausgesucht, das Getränk Kakao war im Auswahlverfahren unschlagbar. Auch Würstchen und Gebäck würde es geben. Kaffee, Tee oder Fruchtsäfte sind auf der Wache sowieso ständig im Angebot. Jedes Kind sollte auch ein passendes Geschenk erhalten. Wir selbst und einige Firmen hatten für die Aktion Geld gespendet, damit besorgten wir Geschenke nach Wunschlisten, die uns die Kinderbetreuerinnen übermittelten.
Einen Weihnachtsbaum gab es bei uns sowieso jedes Jahr, auch Weihnachtsschmuck ist auf allen Wachen vorhanden. Wir putzten den Baum schon am 22. auf. Eine kleine Überraschung hatten wir noch im Köcher, nämlich, wie wir die Geschenke den Kindern präsentieren wollten, aber dazu später.
Beim Programmablauf planten wir anfänglich eine Begrüßung im Hof mit einem heißen Punsch. Die Feuerwehr selbst wollten wir auch ein wenig präsentieren mit einer Fahrzeugschau, einer Runde mit der Drehleiter, soweit es den Kindern körperlich zumutbar war, und eine kleine Vorführung, quasi ein Feuerwehreinsatz, waren geplant. Danach ginge es in den Speisesaal, wo wir auch die Geschenke übergeben würden. Je nach Laune der Kinder, die Jause vorher oder eben danach. Wir nahmen uns jedenfalls vor, ständig mit den Betreuerinnen die nächsten Schritte zu besprechen, um etwaige Änderungen oder vielleicht nicht gut durchdachte Punkte abzuändern.

Meine Gedanken hörten nicht auf zu wandern. Meine Blicke waren, immer noch am Fenster stehend, in den Innenhof gerichtet, auch die Schneeflocken vollbrachten noch ihre Arbeit. Jedoch starrte ich in ein Loch, keine einzige Bewegung meiner Kollegen im Innenhof, wo die Vorbereitungen liefen, konnte ich wahrnehmen. Durfte ich eigensinnig und glücklich darüber sein, dass mein Kind wohlbehalten und bei geistiger und körperlicher Gesundheit ist? Ja, doch? Oder ist es unfair gegenüber den Eltern und auch den Kindern, die wir in wenigen Stunden empfangen werden?

Ein grelles Licht riss mich förmlich in die Gegenwart. Der darauffolgende Gong und die Ansage führte mich ins Alltagsleben zurück. «Selbstgefährdende Person!», wurde alarmiert, zum zweiten Mal heute schon. Fast die gesamte Mannschaft muss bei dieser Einsatzart ausrücken, ich selbst sitze heute auf der Drehleiter. Die Einsatzart besagt, dass eine Person einen Suizid ankündigt. Meist ist es so, dass Leute, die das ankündigen und warten, bis wir eintreffen, jene vorgehabte Tat nicht mehr umsetzen. Wir besetzen bei unserer Ankunft die Fenster mittels Sprungkissen oder Drehleiter, sodass ein Herabspringen so gut wie keinen Sinn mehr macht. Mit der Polizei oder Wega, je nachdem ob eine Schuss- oder Stichwaffe vorhanden ist oder nicht, gehen wir dann mit einer Löschgruppe über die Eingangstüre in die Wohnung. Manchmal wird auch ein Polizeipsychologe hinzugezogen. Leider gibt es in der heutigen Zeit sehr viele, die eben nicht auf unser Eintreffen warten oder es gar nicht ankündigen, hierbei ist nur mehr ein Abdecken der Leiche oder ein Bergen aus schwierigen Positionen nötig. Vor allem in der Vorweihnachtszeit finden viele Menschen keinen anderen Ausweg mehr und entscheiden sich für diesen letzten Weg.

Pünktlich gegen 16 Uhr kamen die Kinder über unser großes Tor herein, diesen Anblick werde ich mein gesamtes Leben nicht vergessen. Die vier Betreuerinnen hatten an jeder Hand ein Kind, zwei größere Jungs schoben einen Rollstuhl, die restlichen trabten mit großen Augen hinterher. Die Blicke der Kinder saugten alles auf, was sich in der Umgebung befand. Da einige Fahrzeuge schon draußen standen, waren die ein besonderer Blickfang. Keiner von uns wusste so recht, ob wir ihnen behilflich sein konnten, unsicher näherten wir uns und begrüßten sie. Zwei Gruppen waren noch draußen bei dem eben beschriebenen Einsatz. Übrigens, die Person verschanzte sich in ihrer Wohnung und warf immer wieder Gegenstände, wie Geschirr, kleine Möbelstücke oder Kleidung auf die Fahrbahn. Es ging um eine Abschiebung im Familienkreis.
Ein Kollege neben mir nahm überraschend ein Kind bei der Hand und führte es über den Innenhof. Als dies die anderen sahen, suchte sich jedes Kind, das körperlich in der Lage war, einen Kollegen aus und nahm ihn bei der Hand. Alexander, ein Bub mit starker spastischer Lähmung, suchte meine linke Hand. Ich sah ihn an und er schenkte mir ein Lächeln, leichte Stromschläge durchfuhren mich, meine Tränen konnte ich nicht zurückhalten. Wie formulierte einmal André Heller zutreffend: «An was soll i denn glauben, außer an des, was i g’spühr?», dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Er tat sich schwer beim Gehen, vielen Worten konnte ich nicht folgen, da die meisten Silben in der Aussprache untergingen, aber ich hatte das Gefühl, dass er glücklich war. Immer wieder suchten mich seine Blicke. Ich wusste nicht zu antworten, bis auf das, dass ich ihn immer wieder anlächelte und seine Hand fester drückte. In diesem Moment kamen die beiden restlichen Gruppenfahrzeuge von dem Einsatz zurück. Als die Fahrer die Kinder im Hof stehen sahen, drehten sie nochmals das Blaulicht auf und ließen das Folgetonhorn einmal ertönen. Alexander, den ich immer noch an der Hand hatte, zuckte erschrocken zusammen. Einige Kinder schrien kurz auf und wir dachten schon, ui, jetzt haben wir das erste Problem. Jedoch Sekunden später jubelten sie und feierten die Kollegen.

Der Vollständigkeit halber – der Einsatz ging positiv aus. Die Person konnte überwältigt werden und wurde anschließend dem Rettungsdienst übergeben.

Da es immer noch schneite, wurde nur die kleine Einsatzvorführung im Freien abgehalten, das Punschtrinken und das Besichtigen der Fahrzeuge wurde in die Fahrzeughalle verlegt. Das Drehleiterfahren wurde weggelassen. Am sogenannten Steigerturm wurde die Vorführung präsentiert. Solch ein Turm, meist acht bis neun Stockwerke hoch, ist auf jeder Feuerwehrwache in Wien vorhanden und dient dem Üben in Höhen über dem dritten Stock, aber auch dem Hakenleitergang. Das ist eine Leiter, auf jedem Gruppenfahrzeug vorhanden, mit der man theoretisch von außen in jedes Stockwerk über die Fassade gelangen kann. Einsatztechnisch kommt sie heutzutage eher selten zum Einsatz, übungstechnisch wird sie immer noch gern gesehen. Die Kinder staunten mit großen Augen, als meine Kollegen mit der Hakenleiter in den dritten Stock wanderten, danach ein Rohr aufzogen und es in Betrieb nahmen. Als sie dann von oben herunter spritzten, fingen sie auf der Stelle zu hüpfen und kreischen an, die Freude war spürbar. Da nun alle 34 Beamten anwesend waren, hatten die Betreuerinnen kein Kind mehr an ihrer Hand, alle hatten sich Kollegen von uns ausgesucht und himmelten sie förmlich an.
In puncto Bescherung hatten wir uns überlegt, dass wir einen Kollegen als Weihnachtsmann verkleiden und er über die Drehleiter durch das Fenster des Speisesaales im zweiten Stock einige Geschenke hereinbringen würde. Organisatorisch eine kleine Herausforderung, da wir auf der Rosensteingasse, wo auch zwei Straßenbahnlinien fahren, die Drehleiter positionieren mussten. Einerseits mussten wir bei den Wiener Linien ansuchen, dass für etwa 10 Minuten die Straße gesperrt wird und auch unsere Drehleiter musste für diese Zeit verzögert werden. Auch wenn es einem guten Zweck dient, im Falle eines Einsatzes hat kein Richter Verständnis und wir hätten Erklärungsbedarf, würde die Drehleiter zu spät ausfahren, und die notwendige Menschenrettung könnte nicht oder verspätet durchgeführt werden. Sowohl von unserer Obrigkeit, als auch den Wiener Linien gab es grünes Licht und somit war dem kleinen Spektakel nichts mehr entgegenzusetzen. Natürlich war das Aufsehen auf der Rosensteingasse dementsprechend und die Handykameras unserer lieben Bevölkerung waren wieder voll im Einsatz.
Die Frankfurter mit Gebäck standen schon bereit, als wir mit den Kindern den Saal betraten. Natürlich war auch der geschmückte Baum während dem Platznehmen ein Gesprächsthema unter den Kindern. Nicht alle aßen die Würstel, manche griffen gleich nach den Torten, die wir ebenfalls auf Papptellern bereitstellten. Einige umgekippte Kakaos ließen kurzzeitig die Stimmung hochgehen, aber im Großen und Ganzen ging die Jause gut über die Runden und ich hatte immer noch den Eindruck, die Kinder fühlen sich wohl und bekommen etwas, was sie schon lange verdient haben – Anerkennung und Glücksgefühle.

Im ungünstigsten Moment ging das Alarmlicht an. «Bitte jetzt keinen Bereitschaftseinsatz», war mein Gedanke, als kurze Zeit später der Lautsprecher Folgendes von sich gab: »3.HLF, 17., Alszeile 24, Unfall in Wohnung!» Wie immer wurde die Ansage wiederholt, sechs Beamte verließen den Saal, um den Einsatz zu absolvieren, leider waren auch wieder Tränen dabei, als die Kollegen den Raum verließen. «Unfall in Wohnung», besagt, dass eine Person entweder in ihrer Wohnung zu Sturz gekommen ist und nicht mehr von selbst dem Rettungsdienst die Türe öffnen kann oder ein Familienangehöriger, ein Nachbar oder ein Sozialdienst die betreffende Person wartend vor der Haustüre nicht erreichen kann und eben einen Unfall in der Wohnung vermutet. In allen diesen Fällen wird die Türe von uns professionell geöffnet und dem Rettungsdienst der Zutritt ermöglicht.

Es war Zeit für den Höhepunkt, der Speisesaal wurde verdunkelt und ein Fenster geöffnet. Als das Surren der Hydraulik im Raum immer hörbarer wurde, war die Anspannung der Kinder greifbar. Keines der Kinder konnte auch nur annähernd wissen, was nun geschehen würde. Die Drehleiter war von den Sitzplätzen aus nicht sichtbar, das Geräusch war fast ein wenig beängstigend. Mit besänftigenden Gesten versuchten wir die Kinder ruhig zu halten, als aber der verkleidete Feuerwehrmann durchs Fenster stieg, war kein Halten mehr möglich. Sie begannen zu kreischen und schreien, fast dachten wir schon, wir müssten die Aktion beenden. Mit ständigem Sichtkontakt zu den Betreuerinnen ließen wir den Weihnachtsmann einsteigen und die in der Drehleiter verstauten Geschenke ausräumen. Der Geräuschpegel war enorm, ich konnte nicht mehr sagen, ob es Ausdrücke der Begeisterung, der Freude oder der Angst waren.
Die Geschenke wurden, nachdem die Kinder sich einigermaßen beruhigt hatten, verteilt. Für die Kinder war es ein Höhepunkt nach dem anderen, ich denke, dass sie diesen Tag nicht mehr so schnell vergessen werden. Der Zeitplan ließ danach nicht mehr viel zu, da wir sich zeitlich verkalkuliert hatten und die Betreuerinnen schon Druck machten, um bald aufbrechen zu können. Bis die Kinder in ihrer Winterkleidung verstaut waren, alle ihre Geschenke glücklich unter ihrem Arm hatten und realisierten, dass sie nun gehen mussten, vergingen wohl 40 Minuten. Wir begleiteten die gesamte Gruppe noch bis zu unserem großen Ausfahrtstor. Bis zum letzten zugehörigen Pflasterstein der Hauptfeuerwache Hernals wurden meine Hände durch meinen neugewonnenen Freund Alexander gewärmt und gedrückt. Als ich ihn zum Abschied liebevoll umarmte, glaubte ich, eine Träne bei ihm gesehen zu haben. Seine Gesichtszüge zeigten Freude und Glück, zumindest sah ich es so.
«Alles Gute für dich!», waren meine letzten Worte, ob sie zutreffend gewesen waren, ich weiß es nicht. Bis heute habe ich ihn nicht mehr gesehen. Wochen nach unserem Zusammentreffen musste er für längere Zeit ins Krankenhaus. Als ich das hörte, dachte ich nur, bitte lass ihn noch viele solche glückliche Minuten, wie die, die er bei uns hatte, erleben.