Nicht genesen, nicht gesehentun & lassen

Illustration: © Bernd Pegritz

Long-COVID-Erkrankten wird häufig eine psychosomatische oder psychische Erkrankung attestiert. Sie ringen um Anerkennung dafür, dass die Ursachen körperlich sind. Eine Betroffene berichtet von diesem «Medical Gaslighting», dem Absprechen oder Bagatellisieren ihrer Symptome.

Zur Jahreswende 2019/2020 verbrachte ich etwa zwei Monate mit Entzündungsherden in der Lunge hauptsächlich auf dem Sofa. Im darauffolgenden Jahr wiederholte sich der Prozess. Diese Auto­immunerkrankung, die bei mir mit 28 Jahren zum ersten Mal ausbrach, schlug allerdings keine so große Zäsur in mein Leben wie das postinfektiöse Syndrom, das mich im Frühling 2021 ereilte. Die Lungenentzündung war zwar wunderbar abgeheilt und nichts schien dem heiß ersehnten Neustart im Weg zu stehen. Doch mein Allgemeinzustand verschlechterte sich von Monat zu Monat. Eine ergebnislose Odyssee quer durch die Fachrichtungen der Medizin begann. Irgendwann gab ich mich mit der ­Hypothese einer psychischen Störung geschlagen. Aber mit leichter Verzögerung triggerte jede Unternehmung eine absurde Reaktion. Ich fühlte mich unendlich erschöpft – mal, als hätte ich eine Infektion, mal, als hätte ich zwei Nachtdienste hinter mir und einen Kater. Dazu gesellten sich allerlei beunruhigende neurologische Symptome. Ich war meiner Arbeit als Betreuerin in einem Obdachlosenwohnheim und meinem Lehramtsstudium nicht mehr gewachsen. An Sport war bald nicht mehr zu denken. Treffen mit Freund:innen strengten mich an. Einzig mein Lungenarzt zweifelte an ­einer psychischen Ursache – was mir letztendlich die Zuversicht gab, die ich brauchte, um mich selbst zu informieren. Meine beste, um nicht zu sagen einzige verlässliche Informationsquelle war eine Selbsthilfegruppe. Hier hatte ich erstmals den Eindruck, mit meinen Symptomen nicht allein zu sein, und ich profitierte von den Ratschlägen anderer Erkrankter. Erst ein Jahr später bestätigte sich mein Verdacht im Zuge einer medizinischen Rehabilitation endgültig: Post-COVID-Syndrom, auch bekannt als «Long-COVID». Kurz darauf fand ich einen Neurologen und erhielt endlich eine medikamentöse Therapie, die zumindest einiges zum Besseren wandte und mir ein Stück Lebensqualität zurückgab.

Merkmale einer echten Krankheit

1969 ­listete die Weltgesundheitsorganisation «­Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom», kurz ME/CFS, als neurologische Erkrankung. Aktuelle Studien liefern immer mehr Belege für physiologische Pathomechanismen – den mit naturwissenschaftlichen Methoden erfassbaren Ablauf des Krankheitsprozesses. Dennoch bleiben die Lager in der Forschung gespalten. Dabei ist ME/CFS die schwerste Ausprägung eines postinfektiösen Syndroms, einer Anhäufung von Symptomen, die durch Infektionen ausgelöst wird. ­Studien belegen, dass das Risiko, an ME/CFS zu erkranken, nach ­einer COVID-19-Infektion deutlich erhöht sind.
Das Post-COVID-Syndrom umfasst ­viele verschiedene Symptome, die Ausprägung kann sehr unterschiedlich sein. Ein Teil der Erkrankten entwickelt das volle klinische Bild von ME/CFS. Das Hauptsymptom von ME/CFS ist eine Belastungsintoleranz (auch Post-Exertional Malaise, PEM, genannt). Das bedeutet eine plötzliche Verschlechterung des Zustands. Die PEM tritt unmittelbar oder mit zeitlicher Verzögerung schon nach geringen körperlichen, geistigen oder emotionalen Anstrengungen auf. Häufig erleben die Erkrankten neben abnormer Erschöpfung allein durch alltägliche Bewegungen wie Stiegensteigen auch eine Dysregulation des Nervensystems, Kreislaufprobleme, Schwierigkeiten mit der Verdauung, chronische Schmerzen, Muskelschwäche oder kognitive Einschränkungen. Die Symptome unterscheiden sich von Person zu Person. Die Schwere der Erkrankung reicht von leichten Einschränkungen bis zu vollständiger Bettlägerigkeit und Pflegebedarf. Das britische National ­Institute for Health and Care Excellence hat bereits 2020 ­Leitlinien erarbeitet, wie mit dem Post-COVID-Syndrom umzugehen sei. Doch auch die konnten den jahrelangen Trend des Infragestellens von Patient:innen und ihrer Selbstwahrnehmung nicht umkehren. Wie kommt es zu dieser Ignoranz?

«Hysterische Weiber»

Die Mehrheit der ME/CFS-Betroffenen sind Frauen, und dafür gibt es gute Gründe: Frauen sind anfälliger für Auto­immunprozesse. Außerdem können die Beschwerden von hormonellen Schwankungen, wie sie im weiblichen Zyklus auftreten, getriggert oder verstärkt werden. Doch das Bild vom «hysterischen Weib», das durch Simulation Aufmerksamkeit erregen will, geistert noch immer durch die Köpfe der Menschen. Weiters ist eine Erkrankung nach dem Verständnis vieler Leute – und dazu gehört auch medizinisches Personal – entweder körperlich oder psychisch. Das wird gerade bei Ausschlussdiagnosen zu einer echten Krux. Gibt es keinen organischen Befund, so muss nach dieser Logik eine psychische Genese für die Symptome verantwortlich sein. Während sich die Idee der Psychosomatik etabliert hat, genießt das Modell der somatopsychischen Erkrankung kaum Bekanntheit. Dabei ist es doch gar nicht so schwer vorstellbar, dass eine chronische körperliche Erkrankung früher oder später Auswirkungen auf die Psyche zeigt.

Nicht im System

Gerade die Behörden haben ihre Mühe damit, einen adäquaten Umgang mit Long-COVID und ME/CFS zu finden. Nicht nur ärgerlich, sondern existenzgefährdend ist das ständige Abschieben von Zuständig­keiten. Arbeitsunfähige landen zunächst bei der ­Krankenkasse, deren Priorität eine Verhinderung von Langzeitkrankenständen zu sein scheint. Ein Antrag auf Berufsunfähigkeits- oder Invaliditätspension bzw. Rehabili­tationsgeld wird in der überwiegenden Mehrheit ­der Fälle zunächst abgewiesen. «Eine Arbeits­unfähigkeit ist nicht vorhanden», heißt es dann.
Tatsächlich ist unser Gesundheits- und Sozialsystem überhaupt nicht auf die Bedürfnisse von Menschen mit Belastungsintoleranz ausgerichtet. Durch die lange Unsichtbarkeit dieser Erkrankung wurde nie eine Bemessungsgrundlage in den Katalogen der Versicherungsträger geschaffen. Anders ausgedrückt: Long-COVID oder ME/CFS existieren offiziell gar nicht.
Das ist auch der Grund, weshalb in behördlichen Gutachten nur in Ausnahmefällen von diesen Krankheiten die Rede ist. Stattdessen werden sie zu psychischen Erkrankungen umgedeutet. Ist dieses Vorgehen an sich schon fragwürdig, so ist umso schlimmer, dass die Zuschreibung eines psychischen Leidens als Vorwand benutzt wird, um einen negativen Bescheid auszustellen. Der Umgang der Behörden spiegelt so die Ambivalenz unserer Gesellschaft mit psychischen Erkrankungen wider: Offenbar werden sie nicht gleich stark gewichtet wie körperliche Erkrankungen.

Zurück ins Leben

Folgerichtig liegt auch die medizinische Rehabilitation im Argen. Ob dahingehende Maßnahmen überhaupt Sinn machen oder eine Zustandsverschlechterung provozieren könnten, hängt davon ab, wie schwer jemand betroffen ist. Offiziell gibt es nach Angaben der zuständigen Pensionsversicherungsanstalt auch vier Jahre nach Ausbruch der Pandemie keine einzige auf Belastungsintoleranz/PEM ausgerichtete Reha. Ein solche Spezialisierung wird der Eigeninitiative der Einrichtungen überlassen und ist mit deutlichem Mehraufwand verbunden. Sind die Vorgehensweisen der Behörden auf Sparmaßnahmen oder schlichtweg auf Wissensdefizite zurückzuführen?
Einen kleinen Lichtblick gibt es allerdings: Das Interesse an gezielter Forschung und somit auch der Bekanntheitsgrad von postinfektiösen Syndromen wird immer größer. Auch politisch tut sich endlich etwas: Noch dieses Jahr ist der Aufbau eines Kompetenzzentrums als zentraler Expertise-Stelle geplant. Es bleibt zu hoffen, dass in absehbarer Zukunft nicht nur symptombezogene, sondern kausale Thera­pien gefunden werden.
Für mich und Tausende andere ­Betroffene scheint es noch wie ein Traum, ins frühere Leben zurückkehren zu können. Das ist jedoch eine Vorstellung, an der wir festhalten sollten. Es steht für viel zu viele Menschen schon viel zu lange alles still.

Long-COVID-Selbsthilfegruppe:
www.longcovidaustria.at

Österreichische Gesellschaft für ME/CFS:
www.mecfs.at

Blog zu Long-COVID-Erfahrung:
www.mariehuth.net/category/texte-long-covid