Nicht länger Orbáns Sklaventun & lassen

Aufruhr in Ungarn. Zehn Tage vor Weihnachten begannen die Proteste gegen Victor Orbán, und sie dauern an. Längst geht es dabei nicht mehr nur um die Politik des ungarischen Ministerpräsidenten und sein mit Jahresanfang in Kraft getretenes Arbeitszeitgesetz. Von Barbara Eder.

Illustration: Stefanie Hilgarth

Budapest, 5. Januar 2019 – rund 10.000 Demonstrant_innen versammeln sich nach einem nachmittäglichen Protestmarsch durch die Budapester Innenstadt vor dem Parlament. Bis zur Fortsetzung ihrer Kundgebung haben sie sich kaum Zeit gelassen: Bereits am fünften Tag des neuen Jahres knüpfen die Demonstrierenden an die Proteste vom Dezember 2018 an. Skandiert werden Sprüche wie «Wir werden keine Sklaven sein» und «Dreckige Fidesz», aber auch die Forderung «Új választást, csalás nélkül!» – «Neue Wahl, ohne Betrug» – findet sich auf einem der Transparente. Das Jahr 2019 wird zum «Jahr des Widerstandes» erklärt. Dieser begann als Arbeitskampf und richtet sich nunmehr gegen die national-autokratische Führung Ungarns unter Ministerpräsident Victor Orbán. Der öffentliche Protest entstand anlässlich des von der regierenden Fidesz-Partei beschlossenen Arbeitszeitgesetzes; jetzt wollen die Demonstrierenden mehr als nur die Abschaffung des mit der Zwei-Drittel-Mehrheit von Orbáns Partei abgesegneten «Sklaven-Paragraphen». Sie wollen, so scheint es, nicht länger Orbáns Sklaven sein.

Gott bewahre! Das mit Jahresanfang 2019 in Kraft getretene ungarische Arbeitszeitgesetz sieht vor, dass Arbeitgeber_innen bis zu 400 Überstunden pro Jahr anordnen, sich mit der Bezahlung dafür aber bis zu drei Jahre Zeit lassen dürfen – ein Aufschub, den Orbán für gerechtfertigt hält. Bei einer Pressekonferenz vorletzte Woche hielt er sich vorerst bedeckt; dann argumentierte er ähnlich wie dazumal hiesige Regierungsvertreter_innen in Bezug auf die Richtlinie zur Arbeitszeitflexibilisierung. Das neue Arbeitszeitgesetz in Ungarn ermögliche es, so Orbán, Arbeitszeiten flexibler zu gestalten; die Aushandlung der Höhe ebenso wie der Zeitpunkt der Bezahlung von Überstunden sei indes eine rein individuelle Angelegenheit. Von den Protesten gegen sein Gesetz zeigt sich der Politiker kaum bekümmert. Er hält diese für Inszenierungen des amerikanischen Milliardärs und Bildungsunternehmers George Soros, der seit den Europawahlen im Mai 2018 oppositionelle Kräfte gegen ihn aufrichte; Fidesz-Kanzleramtsminister Gergely Gulyás hingegen sah in der vorweihnachtlichen Protestwelle einen Affront gegen christliche Werte. «Gott» solle Ungarn davor «bewahren».

Die in Reaktion auf Orbáns politischen Zynismus einsetzenden Proteste werden von ungarischen Oppositionsparteien – darunter auch die ehemals rechtsradikale und nunmehr nationalkonservative Jobbik – ebenso unterstützt wie von Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft. Einer der Redner_innen verkündete letzten Samstag sogar die «Geburt» einer neuen Opposition. In der Tat: Diesmal ist Orbán der Feind, der eint. Zu seinen Gegner_innen zählen mehrheitlich Linke und Links-Liberale, aber auch am politischen Spektrum in der entgegengesetzten Richtung Angesiedelte. Sie kritisieren die Missstände im Kabinett Orbán, darunter vor allem die regierungsnahe Medienberichterstattung, die Einschränkung der Freiheit in Forschung und Lehre und die Korruption hochrangiger Regierungsvertreter_innen. Zu den kollektiv erhobenen Forderungen zählen die Streichung des Arbeitszeitgesetzes, die Wiederherstellung unabhängiger Gerichte und überparteilicher öffentlich-rechtlicher Medien, der Beitritt Ungarns zur europäischen Staatsanwaltschaft und erstaunlicherweise auch die Verringerung der im Polizeidienst zu leistenden Überstunden.

Grundlegende Veränderungen.

«Gott bewahre Ungarn» – die bigotte Entgegnung von Gergely Gulyás angesichts der aufkommenden Proteste hat spätestens seit dem Inkrafttreten der neuen ungarischen Verfassung am 1. Januar 2012 Tradition. Diese betont die «Rolle des Christentums bei der Erhaltung der Nation» ebenso wie die der Familie als «Grundlage des Fortbestands». Das staatliche Gebilde, an dessen Spitze Victor Orbán steht, hat sich seither grundlegend gewandelt. 2011 wurden die Grundlagen für eine parlamentarische Zwei-Drittel-Mehrheit zugunsten der Fidesz-Partei verändert, gefolgt von Einschnitten in die Pressefreiheit infolge eines neuen Mediengesetzes. Im Januar 2012 wurde die Zusammenlegung von ungarischer Notenbank und Finanzaufsicht in der Verfassung ebenso festgelegt wie die Schaffung einer Datenschutzbehörde und einer für die Gesetzgebung zuständigen Landesjustizbehörde, deren Vorsitzende in beiden Fällen durch Orbán ernannt werden. Infolge dieser demokratiepolitisch weit reichenden Änderungen leitete die Europäische Kommission 2012 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn ein. Dass der auch als Grundgesetz bezeichneten ungarischen Verfassung ein Satz aus der Nationalhymne vorangestellt ist – «Gott, segne die Ungarn» –, kann indes als Ausdruck einer religiösen Überhöhung weltlichen Regierens verstanden werden. Die im Oktober letzten Jahres beschlossene Nichtwiederzulassung des Fachs Gender Studies an ungarischen Universitäten ist Teil der dazugehörigen Theologie. Stattdessen wurde der Unterrichtsgegenstand «Patriotische Erziehung» – zuerst an Gymnasien, jetzt auch in Kindergärten – eingeführt: «Das nationale Identitätsbewusstsein, die christlichen kulturellen Werte, die Heimatliebe und die Bindung an Vaterland und Familie» sollen auf diese Weise früh verankert werden.

Brüchig gewordene Identität.

Der Kult des Nationalen ist in Ungarn derzeit populärer denn je – und zugleich Ausdruck einer tief sitzenden Krise: Auf im Mythos fundierte Gründungsmomente wurde historisch immer dann zurückgegriffen, wenn es in der Gegenwart keine Seinsvergewisserung mehr gab. Durch den Rückgriff auf die immer schon fiktiven «Ursprünge der Nation» versichert man sich erneut einer brüchig gewordenen Identität. So etwa sehen sich die Mitglieder der im Juli 2009 offiziell verbotenen Ungarischen Garde als Vorreiter eines «wahren Magyarentums», das sich als «Blutsgemeinschaft» verstanden wissen will. Vermeintliche Ursachen für etwaige «Verunreinigungen» ortet diese im Organischen; als «judeo-bolschewistisch» bezeichnet werden hingegen politische Widersacher_innen. In den Kreisen der Jobbik stand etwa die Lektüre selbstverfertigter Nachdrucke von Zoltán Bosnyáks’ 1943 verfasster antisemitischer Hassschrift «Die Verjudung Ungarns» ebenso an der Tagesordnung wie rassistisch motivierte Gewaltverbrechen. Letztere kulminierten in einer Serie von Anschlägen auf ostungarische Roma-Ghettos im Jahr 2009.

Auch Victor Orbán und seine politischen Verbündeten kultivieren eine nationalistische Rhetorik, die den Rückgriff auf archaische Symbole nicht scheut: Anlässlich der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft 2011 ließ Orbán im Brüsseler Ratsgebäude etwa einen Teppich ausrollen, der Ungarn innerhalb der Grenzen von 1848 zeigte. Auch all jene Politiker_innen waren dazu genötigt, diesen zu überschreiten, die sich von Orbáns Idee eines geeinten «Groß-Ungarns» wenig fasziniert zeigten. Zu den längerfristigen Zielen Orbáns mag wohl auch die territoriale Erweiterung Ungarns um jene von ungarischen Minderheiten besiedelten Gebiete Sloweniens, Kroatiens, der Ukraine und der als «Unterungarn» bezeichneten Vojvodina zählen – Territorien, die infolge des Vertrags von Trianon nicht länger zu Ungarn gehören.

Audi, Mercedes, BMW.

Wer die Idee eines «geeinten Ungarn» salonfähig machen will, muss sie im Bewusstsein verankern. Für eine große Zukunft braucht es jedoch keine großen Gesten. Es reicht aus, vor den Denkmälern «großer Magyaren» regelmäßig Lorbeerkränze zu deponieren – so auch in der ostungarischen Stadt Debrecen. Die Kränze sind mit Bändern in den ungarischen Nationalfarben umwickelt und verweisen auf die Eckdaten einer fiktiven Genealogie. Mit den Zahlen «1848-1956-1998» wird an Ereignisse in der jüngeren Geschichte Ungarns erinnert, die für Orbáns «nationale Revolution» von Bedeutung sind. Im Rahmen des offiziellen Geschichtsbildes in Ungarn gilt das Jahr 1848 als Initiationsmoment für die «Befreiung» vom Joch der Doppelkrone, der antistalinistisch motivierte Aufstand von 1956 wird zum Zeitpunkt der nationalen Insurrektion und das Jahr 1998 – es tritt an die Stelle der tatsächlichen politischen Zäsur von 1989 – markiere den Bruch mit dem «kommunistischen Terror». Orbán zufolge wirkte dieser bis in die Amtszeit der demokratisch gewählten Vertreter_innen der Magyar Szocialista Párt, der Ungarischen Sozialistischen Partei.

Bereits seit 2010 dauert die Herrschaft des Autokraten an, der mit jedem seiner Beschlüsse seine «nationale Revolution» ein Stück weit vorantreiben will. Dennoch fehlt es nicht an Hinweisen darauf, dass die jüngste Änderung im ungarischen Arbeitsrecht auf Druck der deutschen Automobilindustrie zustande gekommen ist: Audi besitzt bereits seit Jahren Produktionsstätten in Ungarn, Mercedes will dorthin expandieren und BMW errichtet gerade ein neues Werk in Debrecen. «Jó munkát!» sagt man in Ungarn, wenn jemand zum Arbeiten aufbricht. Der Weg ins «neue Ungarn» kommt scheinbar nicht ohne deutsche Autobahn aus.