Comic: German Calendar No December
Der nigerianisch-deutsche Comicroman German Calendar No December von Birgit Weyhe und Sylvia Ofili ist nun in deutscher Übersetzung erschienen. Martin Reiterer (Text) hat ihn gelesen und dabei viel über interkulturelle Lebensgeschichten gelernt.
Ein Appell in der Mittagshitze. Eine Parade kniender Mädchen, die Arme nach oben ausgestreckt. Bis die ersten ohnmächtig werden. Ein Militärcamp? Eine Strafkolonie?
Nein, ein Mädcheninternat in Lagos, Nigeria, Mitte der 1990er-Jahre. Zwischen den älteren Schülerinnen, den Seniors, und den Jüngeren, den Juniors, herrscht ein strenges System der Ausbeutung und Demütigung. Putz- und Waschdienste, Abschreibaufträge und Erledigungen aller Art bis hin zum sklavischen Frischluftfächeln sind da an der Tagesordnung. Und schließlich sind es die willkürlichen Kollektivstrafen bei einem – aufgrund welch zweifelhafter Urteile auch immer festgestellten – individuellen Fehlverhalten, die bei der Protagonistin Olivia ein überwältigendes Gefühl der Entwürdigung hinterlassen.
Dabei stammt Olivia aus gutem Haus und wächst, bevor sie ins Internat kommt, zusammen mit ihren Geschwistern wohlbehütet und umsorgt auf. «Vergiss nie, wer du bist …» – tatsächlich fällt dieser Zuspruch des Vaters bei Olivias Verabschiedung an der Schwelle zum Internatsleben auf fruchtbaren Boden, und das Glück der Kindheit, das ihr Rückhalt bietet, lässt die stolze Tochter ihres Vaters schließlich zur Rebellion schreiten.
Interkulturelle Lebensgeschichten.
German Calendar No December ist ein Comic der nigerianischen Autorin Sylvia Ofili (Jahrgang 1978) und der deutschen Zeichnerin Birgit Weyhe (Jahrgang 1969), der auf ein Projekt des Goethe Instituts Lagos mit dem Titel Imagined realities zurückgeht. Die Ausgangsidee war es, eine Kooperation zwischen einer nigerianischen und einer deutschen Autorin zu vermitteln, die zusammen eine Graphic Novel verfassen und dabei Realitäten ihrer Kulturkreise einfließen lassen. Wie ausgezeichnet dieser Plan aufgegangen ist, lässt sich nun an der zweiteiligen Erzählung ermessen, die zur Hälfte in Nigeria und zur anderen Hälfte in Deutschland spielt.
Die Voraussetzungen wurden bereits durch die Wahl der Künstlerinnen geschaffen. Denn beide verfügen über eine interkulturelle Lebensgeschichte, die sich jeweils zwischen Afrika und Europa ausbreitet. So ist die gebürtige Münchnerin Weyhe, mittlerweile eine der bekanntesten deutschsprachigen Comicautorinnen, in Kenia und Uganda aufgewachsen, bevor sie zum Studieren nach Deutschland zurückkehrte. Umgekehrt lebt die in einer nigerianischen Kleinstadt aufgewachsene Bloggerin und Tochter nigerianisch-ungarischer Eltern, Ofili, heute in Schweden. Deutliche Züge ihrer Biografie finden sich in der Geschichte der Protagonistin Olivia wieder. Deren Mutter ist Deutsche, die zwar ihre Kontakte und Verbindungen zur ehemaligen Heimat abgebrochen hat, doch ihre Tochter mit einer Handvoll deutscher Sprachfetzen und einigen vagen Bildern über Deutschland, vor allem aber mit einem deutschen Pass versorgt.
In ihrer Annäherung an die Geschichte Olivias spürt man das doppelte Zuhausesein der Autorinnen auf beiden Kontinenten, was German Calendar No December zu einem besonderen Lektüreerlebnis macht. Wobei das Zuhausesein, angesichts von Kontinenten, freilich voreilig ausgesprochen ist. Während Weyhe nämlich Ostafrika als «ein Stück Heimat» bezeichnet, räumt sie zugleich ein, dass ihr die Geschichte im Mädcheninternat, wie sie ihre Co-Autorin Ofili schildert, völlig fremd war. Währenddessen sei ihr gerade die doppelte Fremdheit, die die Hauptfigur Olivia kurz nach ihrer Ankunft in Deutschland beschreibt, sehr vertraut. Für die Protagonistin ist diese unausweichliche Fremdheit prägend wie lebensbegleitend: Auf zwei hintereinander folgenden Panels mit der Silhouette Olivias, einmal weiß auf schwarzem Hintergrund und einmal schwarz auf weißem Hintergrund, kommt das pointiert zum Ausdruck: «Nachdem ich in Nigeria ‹oyinbo› gewesen war … / … war ich hier – Überraschung – ‹schwarz›.»
Enttäuschte Erwartungen.
«Nicht so, wie du es dir vorgestellt hast.» Diese Erkenntnis Olivias, die nach ihrem Schulabschluss in Lagos das Land verlässt und voller freudiger Erwartungen nach Hamburg kommt, um zu studieren, ist der Tenor des Comics. Am Anfang beider Lebensabschnitte stehen die euphorischen Erwartungen der Hauptfigur und ihre schroffe Kollision mit der Realität. Zuerst sind es die Abenteuer versprechenden Enid-Blyton-Geschichten, die bunt ausgemalten Bilder von einer aufregenden Internatszeit, die schlagartig zerstört werden, später die enttäuschte Vorstellungen einer jungen Nigerianerin mit deutschem Pass, als Deutsche in Deutschland freudig empfangen zu werden. Anschluss findet Olivia dagegen zuerst bei einer Gruppe von Migranten und Migrantinnen.
Es sind die bildlichen Übersetzungen Weyhes, die diesem Comic eine einzigartige Note verleihen. Sie sind eng mit dem eigenen kulturellen Werdegang der Zeichnerin verknüpft, die ihre Bildsprache im Lauf des letzten Jahrzehnts aus ihrem Erlebnis- und Erinnerungsfundus entwickelt und verfeinert hat. Bereits in ihrem Debüt Ich weiß (2008), das im letzten Jahr in einer Neuauflage erschien, hat sie einen Bilderschatz vorgelegt, der sich aus afrikanischen Mythen und Märchen ebenso zusammensetzt wie aus beobachteten Details der Pflanzen- und Tierwelt oder erdachten allegorischen Bildern. Während Ich weiß in Schwarzweiß gezeichnet ist, hat Weyhe in Madgermanes (2016) die Zeichnung um einen Braunton erweitert und dabei eigene Möglichkeiten des Ineinander und Übereinander von Zeichnung und Kolorierung entdeckt. Madgermanes – unter anderem mit dem renommiertesten deutschen Comicpreis, dem Max-und-Moritz-Preis, ausgezeichnet – ist ein herzzerreißendes Stück Aufarbeitung deutsch-afrikanischer Geschichte. Die Madgermanes, wie sie in Mosambik genannt werden, eine Wortschöpfung aus Mad Germans und Made in Germany, sind mosambikanische Vertragsarbeiter_innen, die Ende der 1970er-Jahre in die DDR eingeladen wurden, um eine Ausbildung zu erhalten, die ihnen für den Aufbau ihres Bruderstaates nützlich sein sollte. Ihre Geschichte, die bitter von Anfang an ist und sich tragisch mit dem Ende der DDR wendet, hat Weyhe aus vielen Einzelepisoden anschaulich zusammengesetzt und atemberaubend erzählt.
Ein paar Striche.
In German Calendar No December nimmt die Zeichnerin zwei weitere Farben, Rot und Grün, mit einigen Abtönungen dazu. Mit ihren ästhetischen Formen zeichnerischer Überblendung vermittelt sie auf anschauliche Weise Vielschichtigkeit und Überlagerung, insbesondere in den Kollisionen unterschiedlicher Bilder von Vorstellung und Realität, von einer Kultur und einer anderen. Als ob es sich um mehrere übereinandergelegte Folien mit unterschiedlichen Zeichnungen handelt, spiegeln manche Panels gleichsam das Ineinander von Bildern in unserem Kopf.
Und dennoch ist es wenig, was Weyhe braucht, um die Intensität von Gefühlen darzustellen, sei es unermessliche Freude, unbändige Aufregung oder bittere Enttäuschung und schroffe Entzauberung: ein paar Punkte, ein paar Striche oder einen Schwarm davon.
Sylvia Ofili / Birgit Weyhe:
German Calendar No December
Übersetzung aus dem Englischen von Benjamin Mildner
avant-verlag, 2018
168 Seiten, 22 Euro