Das Tulpenfieber
So neu sind platzende Finanzblasen und Wirtschaftskrisen gar nicht, wo Makler als bloße Vermittler sich schlagartig bereichern, während die eigentlichen Erzeuger und Käufer in die rohe Zwiebel beißen.
Diese Sorgenkinder des Handels, Blase wie Krise, haben früher schon existiert und veranschaulichen in ihren Zeitzeugnissen das oberste Gesetz des Kapitals, die Profitmaximierung nämlich, samt Risikogeschäft als Einladung zum Gelegenheitsverbrechen! Dass das Kommerzparadies des schnellen Geldes für die einen dann zum Tränental der Geld- und Mittellosigkeit für die anderen wird und man die Börsenhallen deshalb immer wieder als Diebeshöhlen wahrnimmt, ist sozusagen kein Einzelfall gewesen, sondern eine geschichtliche Wiederholungstat garantiert durch die im Markt selbst angelegte Irrationalität. Dort schreibt man Dingen ja Werte zu, anstatt sie dingfest zu bemessen, und ihr Marktwert hängt oft mehr von Gerüchten, Gutdünken und Ängsten ab als tatsächlich von Angebot und Nachfrage. Man betreibt im Rausch purzelnder Zahlen sogar Handel mit ungedeckten Werten oder verkauft heiße Luft, kauft etwa Geld mit Geld, schließt volle Speicher, leert leere Kassen und derlei mehr, was jeder Rationalität entbehrt. Preisunsicherheit und Kaufkraftschwankung gehören da zusammen wie Topf und Deckel und kochen abermals dieselbe Entwicklung auf: von der Preistreiberei zum Preisrutsch, über die Geldentwertung bis zur Zahlungsunfähigkeit.
Die erste dokumentierte Spekulationsblase, durch die ein Markt zusammenbricht, ist viel länger her, als man gemeinhin annehmen mag. Das Datum allein verblüfft: 1637, das heißt, vor gut 374 Jahren. Man hat dem wirtschaftlichen Wahnsinn auch einen Geburtsnamen gegeben: das Tulpenfieber. Das riskante Kaufen und Verkaufen an der Börse hat insofern nicht gestern erst begonnen, sondern damals schon. «Reich über Nacht oder arm in den Tag», wird sich ein Halsabschneider mit kaufmännischem Talent wahrscheinlich gedacht haben, nachdem landesweit nur noch von Blumengärten und Tulpensorten zu hören gewesen ist. Der Moment für seine Spekulationsgeschäfte ist ebenfalls denkbar günstig gewählt: Die Beulenpest wütet zu jener Zeit im Tulpenzuchtzentrum Haarlem. Doch Geschäft sei Geschäft, wie jeder Schieber das meint, wenn er sich vom Berufsgauner abzugrenzen versucht. Das Unrühmliche am Aktienmarkt jedoch klebt an dieser geschichtlichen Erfahrung wie ein moralischer Fleck, den man nicht mehr wegwischen kann: Etwas Fiebriges, Kapriziöses, Faules und Verpestetes hängt thematisch in der Luft. Als eines Februartages niemand mehr in die Preisspirale einsteigen und sich den Luxus einer orientalischen Tulpe leisten will, kommt es zu Panikverkäufen und Marktentwertungen, zum einstweiligen Kollaps, der gute Miene zum bösen Spiel macht. Man hat fälschlicherweise mit Gewinnen kalkuliert. Bezeichnend denn auch, dass das erste Buch 1688 über den Aktienhandel, verfasst vom jüdischen Kaufmann J. Penso de la Vega, einen durchaus anzüglichen Namen erhalten hat: Konfusion der Konfusionen!
Begonnen hat die ganze unrühmliche Geschichte der Aktienbörse in Amsterdam 1602 mit der Gründung der «Vereenigde Oostindische Compagnie», nicht nur wegen des Gewürzhandels für Luxusbedürftige, sondern zwecks Errichtung eines Handelsmonopols in den Überseekolonien, das gleichzeitig militärische Befugnisse gehabt und Strafoperationen gegen Einheimische ausgeführt hat. Das allein qualifiziert es als Herrschaftsinstrument, ausgelegt auf Machtbündelung und eingesetzt, um diese Macht nach außen zu schützen. Die ostindische Kompanie fällt aber auch sonst unangenehm auf, denn Korruption und Selbstbedienungsmentalität blühen im Inneren bis zuletzt. Einmal mehr kündigt sich, wie das bei geschichtlichen Ereignissen meistens der Fall ist, am Ursprung selber der Ausgang all dessen an. Die unlauteren Motive sind gleich dreifach ablesbar: an der Sache, am Ablauf und an den Folgen! Und es ist überhaupt kein Zufall, dass der Anbeginn dieses Weltmarktunternehmens im Zeichen der Eroberung und Unterdrückung, der Plünderung und Machterhaltung steht.
«Keine Wirtschaft ohne Krieg, und umgekehrt!»
Daran, dass Politik und Militär in der Regel Wirtschaftsinteressen verteidigen und notfalls mit Gewalt durchsetzen, hat sich im Grunde genommen seit Troja und Karthago nichts geändert. Keine Wirtschaft ohne Krieg, und umgekehrt! Handelsrouten mit Piraten bringen, wie das somalische Beispiel zeigt, bis heute ganze Seeflotten auf den Plan. Dass viele Piraten einmal Fischer gewesen sind, interessiert das Handelskapital recht wenig. Es will nur einen kontinuierlichen Warenhandel, damit der Profit kalkulierbar bleibt aus unsentimentalen Motiven, Moral hin oder her. Trotz der besten Kalkulationen aber fällt die Profitrate tendenziell und erzeugt wiederholtermaßen Krisen, die selbst geschichtlich auffällig geworden sind, weil sie mehr oder minder zyklisch stattfinden. Und was nun? Lässt man sie, wirtschaftliche Mittelsmänner, all die Bankiers, Händler und Spekulanten, einfach gewähren, treiben sie es bald zu bunt, und das schon seit Jahrhunderten
Die erste wahrlich große Handelskrise hat wohl mit dem, wie man es heute ausdrücken würde, begabten Finanzmanager John Law begonnen, dem Ökonom aus einer schottischen Bankiersfamilie: Konvertit, Glücksspieler, Großaktionär und später Generalkontrolleur der Landesfinanzen unter Louis XV. Er gründet 1716 gegen den Willen des französischen Parlaments, dafür aber mit der Zustimmung des Regenten, eine private Notenbank mit Staatsanleihen als Hauptkapital, welche Scheine druckt und zur Deckung des Papiergelds neben Gold auch Landbesitz heranzieht. Seine ebenfalls private Kompanie und Aktiengesellschaft ist, symptomatisch für den Unternehmergeist überhaupt, 1720 als der große Mississippi-Schwindel in die Geschichte eingegangen. Die Spekulationsblase, unbeirrt wertloses Land verkauft zu haben, ist folgenreich hoch gegangen und hat die gesamte französische Wirtschaft angeschlagen. Die Nachbeben dieses unternehmerischen Unterfangens haben wegen der steilen Bereicherung hier und dem krassen Brotkampf da schließlich zu jenen Eruptionen im sozialen Gewebe geführt, welche besser als die Französischen Revolutionen bekannt sind: der Sturm auf die Bastille, die Besetzung von Versailles und der Kampf um die Tuilerien. Das Volk hat angesichts des Wuchers mit dem Wunsch und später mit der Forderung nach Preismaxima die Guillotine stetig vor- und nachgeölt und François Boissel 1789 im entsprechenden Wortlaut verkünden lassen: «Die reichen Müßiggänger sollen arbeiten oder aufhören zu essen.» Auf der Suche nach dem wahren Namen des Kapitalismus also gesellt sich nunmehr, da man seine Entwicklungsgeschichte etwas genauer kennt, zum Fieber der Schwindel, als neue thematische Bereicherung und weiteres historisches Mosaik, kurz, als Teil eines längerfristigen Zyklus.
Eine gesetzmäßige Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Finanzarchitektur zu erkennen, wäre ihren staatlichen Verteidigern interessanter Weise zu diesem Zeitpunkt ein bisschen zu früh. Gut Ding braucht Weile, rechtfertigt sich das Politikantentum mit dem Rezessionskasperl in der Hand, und die Spitzen von Staat und Wirtschaft würden daher zuerst noch ein paar Kongresse abhalten und noch mehr Verhandlungen führen müssen. Dabei haben, genau genommen, des Kaufmanns Schäbigkeit und Schädlichkeit, wie alles Beständige auf dieser Welt, ihre eigene Tradition. Diese Tradition heißt «Wirtschaftskrise», volkswirtschaftlich gesehen: eine irrationale Aufblähung von Märkten, gefolgt von einer Nullprofitrate und dem Zusammenbruch in der Versorgung. Für gewöhnlich tut man trotzdem so, als sei all dies ein zeitlich neueres Phänomen, erst kürzlich aufgetaucht und außerdem völlig überraschend, ein junges Problem sozusagen, das mit fortschreitendem Alter zu einer Lösung gelangen würde. Wie das?! Man weiß doch, dass der schwarze Freitag 1929 sicher nicht der erste Börsenkrach gewesen ist und die Finanzblase 200708 auch nicht die letzte ihrer Art sein wird. Die Erinnerungen an den Ölschock von 1971 verblassen zwar, nicht minder als jene an den krisenhaften Anfang der Neunzigerjahre. Es sind aber bei Gott keine bedauernswerten Sondererfahrungen gewesen. Der Markt krachte auch schon 1825, kurz darauf 183639, wieder 1847, dann 1857, gefolgt vom Jahre 1873, neuerdings 1900 und schließlich 190708. Danach ist übrigens der Krieg ausgebrochen. Alles nur Zufall, die schiefe Optik umsonst, kein Grund etwa für «voreilige» Schlüsse? Wohl kaum.
Rundum tummeln sich allesamt Krisenjahre, im Jahrzehntetakt aufeinander folgend, jeweils ausgelöst durch die Erschließung neuer Produktionszweige und neuer Absatzmärkte! Doch der Weltmarkt wächst nicht unumschränkt, niemals ins Unendliche, wie Rosa Luxemburg bemerkt, sondern immer auf Kosten der Allgemeinheit, und die Bernsteinsche These von der unbegrenzten Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus klingt in diesem Licht nach einer grenzenlosen Zumutung für die Massen, sprich, nach einer leeren Losung zur Rettung von gesellschaftlichen Privilegien vor dem geschichtlichen Fortschritt. Es geht immerhin um Reichtum, das heißt, um «die Ersparnisse von Vielen in den Händen eines Einzelnen», wie Ambrose Bierce sagt. Dürfen denn das börsennotierte Ausbluten und das kreditbedingte Erpressen ganzer Völker oder einzelner Bevölkerungen für Private, für Finanz und Industrie, für das Kapital und seine Interessen je den Status einer so genannten Normalität erreichen? Soll das vielleicht normal sein?! Wirtschaft und Handel sind, im Gegenteil, weder eine heilige Kuh noch ein goldenes Kalb. Ihre Fehler sind althergebracht und notorisch, ihre Ansätze dogmatisch und veraltet. Man muss sie insofern nicht blind achten, sondern bewusst ächten, wo sie menschenverachtend handeln, umso mehr, wenn sie daraus nicht schlau werden und die Wirklichkeit verweigern wie ein Autokrat den guten Rat. Schlauer wird man, nachdem man verspielt hat. In diesem Sinne: Das Spiel ist aus!