«Nicht von oben herab»vorstadt

Foto: © Mario Lang

Lokalmatador:in Nr. 546: Pfarrerin Anna Kampl

Anna Kampl ist Pfarrerin in Simmering. Ihre Gemeinde steht allen Nachbar:innen offen.

Der gelernte Bäcker aus dem Nachbarhaus ist in sein Blatt vertieft. Er hat wieder einmal zu Hause Kuchen gebacken und mitgebracht. Niki und Liesi, beide über neunzig, spielen ebenso Karten. Sie waren in ihrer Jugend aus der im heutigen Serbien gelegenen Bačka vertrieben worden, haben sich dann im Lager für Donauschwaben auf der Simmeringer Haide kennengelernt, dort aus den Augen verloren und hier nach Jahrzehnten wieder getroffen.
Ein junger Kommunist schenkt Kaffee und Tee aus. Ein psychisch Kranker und eine psychisch nicht Kranke bedanken sich dafür.

«Warmes Platzerl»

Sonntagnachmittag im Pfarrsaal der evangelischen Pfarrgemeinde in der Braunhubergasse: Pfarrerin Anna Kampl wird es warm ums Herz, wenn sie – wie jeden Sonntagnachmittag – durch das Meer von rund dreißig Menschen taucht. Dabei schenkt sie ­ihrem jeweiligen Gegenüber viel Aufmerksamkeit und bekommt auch viel Aufmerksamkeit retour.
«Das ist für mich der Himmel auf Erden», eröffnet Anna Kampl, ohne dabei in irgendeiner Form ultrareligiös zu wirken. Weil: Wenn ihr der Sohn des Bäckers erklärt, dass er mit der Kirche nichts am Hut hat, dass er aber mitbekommt, wie sehr sein Vater aufblüht, seit er in ihre Pfarrgemeinde kommt, dann erkennt die Pfarrerin, dass sie mit ihrer Arbeit etwas bewirken kann.
«Bei uns», sagt Anna Kampl, «ist es ein ­bissi egal, ob jemand Hilfe geben oder Hilfe empfangen will.» Ihre Kirche steht allen offen – ein Angebot, das von den Menschen im elften Bezirk gerne angenommen wird.
«Warmes Platzerl» nennen sie in der Braunhubergasse das regelmäßige Zusammen-Kommen am Sonntagnachmittag. Die Vertreterin der evangelischen Kirche erzählt: «Vor zwei Jahren haben wir es eingerichtet, um jenen, die sich im Winter die Heizkosten kaum mehr leisten können, ein bisschen Wärme zu schenken.» Als der Winter endlich von der warmen Jahreszeit abgelöst worden war und ihre Gäste weiterhin kommen wollten, war für sie klar: «Es geht hier gar nicht so sehr um die Heizkosten.»

«Offenes Pfarrhaus»

Anna Kampl arbeitet seit dem Jahr 2016 in Simmering. Zuerst als Pfarrerin in Ausbildung neben ihrer Vorgängerin, Maria Moser. Seit deren Weggang im Jahr 2018 (Moser wurde Direktorin der evangelischen Dia­konie) leitet sie die Pfarrgemeinde.
Die Ehefrau und Mutter einer 14- und einer 17-jährigen Tochter wurde selbst nicht im Elften geboren. Sie stammt aus Nová Paka, einer kleinen zauberhaften Stadt zwischen dem Vorriesengebirge und dem «Böhmischen Paradies» (Český ráj), unweit der Staatsgrenze zu Polen. Sie wuchs «in einem multifunktionalen Haus» auf, in dem ihre Eltern, ihre Großeltern, ein Onkel und eine Tante nicht nur wohnten, sondern auch in deren Ordinationen als Ärzt:innen tätig waren.
Anders als ihr Bruder wollten ihre Schwester und sie nicht an die ärztlichen Karrieren ihrer Familie anschließen: «Ich wollte Journalistin werden.» Bis sie mit 18 das Buch von Svatopluk Karásek in die Hand bekam. Karásek war einer der Unterzeichner:innen der Charta 77, evangelischer Pfarrer und Liedermacher. Seine Rockband The Plastic People of the Universe (mit Wasil Schneider, siehe Lokalmatador Nr. 405) narrte jahrelang das kommunistische Regime. Man trat in Wirtshäusern auf, er selbst hielt ­nebenbei verbotene Gottesdienste.
Im Jahr 1980 musste er schließlich in die Schweiz emigrieren. Nach der Wende kam er gestärkt zurück nach Prag. «Karásek predigte nicht von oben herab», weiß die Pfarrerin. «Er lebte das offene Pfarrhaus.»
In dieser Tradition sieht sich auch Anna Kamplová: «Kirche ist für mich ein offener Ort, an dem alle willkommen sind, wo man mit seinen Bedürfnissen ebenso kommen darf wie mit seinen Talenten und Gaben. Die vermeintlich Schwachen sind hier oft die Stärksten.» Das alte Angebotsmuster «Komm, hol dir was, aber geh dann bitte schnell wieder» ist hier außer Kraft gesetzt. Selbst wenn sie einmal jemanden des Hauses verweisen muss, was selten vorkommt, bietet Anna Kampl immer an, es am nächsten Sonntag «wieder zu probieren».

«Tatort»

Ihr Mann und ihre beiden Töchter ­unterstützen sie bei ihrer hoch ambitionierten Mission. Alle drei lassen sie als Pfarrerin ­walten, kommen oft selbst zum «Warmen Platzerl», um sich ein wenig zu wärmen und mitzuhelfen. Gegen 19 Uhr neigt sich die kirchliche Veranstaltung dem Ende zu. Das hat auch einen rein weltlichen Grund, wie die Pfarrerin in Vorfreude verrät: «Es ist ein beliebtes ­Ritual in unserer Familie, dass wir uns – auch heute Abend – gemeinsam den Tatort im Fernsehen anschauen.»