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Ein E-Mail landet in meinem Postfach. Betrifft: Sendung gestern Abend. «Habe die Diskussion im Fernsehen gesehen», schreibt Frau Waltraud V. «Meine Meinung ist, wer immer genug eingezahlt hat, bekommt auch im Alter genug zum Leben. Ist ja nur gerecht, wer immer brav arbeiten war und immer eingezahlt hat. Der Staat muss mich dann erhalten – auch solche Leute gibt es.»
Und weiter: «Bei mir war es so: Ich hatte eine Operation und wurde in die Pension geschickt. Grund: Man hatte keine Verwendung mehr für mich. Also gut, was sollte ich machen, aber der Gipfel war dann, man hat mir 16 % abgezogen, da ich nur dreißig Jahre gearbeitet habe. Das hat auch keinen gekümmert, und ich war immer arbeiten und werde noch bestraft mit den Abzügen. Ich hab‘ auch nur eine kleine Pension. Mir hat man gesagt, sie haben ja einen Mann, was für mich nicht gerecht ist, denn ich war ja arbeiten, mein Leben lang bis zur Operation. Nur weil ich einen Mann habe, steht mir keine größere Pension zu?» Das E-Mail endet mit zwei Sätzen: «Die wollen ja gar nicht arbeiten, und da sehe ich nicht ein, dass man so etwas unterstützt. Die lachen und sagen, wir bekommen eh alles, wozu soll ich arbeiten.»
In diesem Schreiben kommen die gesamten gesellschaftlichen Widersprüche zum Ausdruck, materialisiert in den Konflikten, in denen die Briefschreiberin sich befindet. Nur wer arbeitet, soll auch eine Pension bekommen, dekrediert Frau V. zu Beginn. Im Umkehrschluss deutet sie an, dass, wer das zu wenig getan hat, auch keine Pension bekommt. So ist das. Pech gehabt. Braucht sich keiner aufregen. Dann aber regt sich doch jemand auf. Und zwar sie selbst. Über die Tatsache, dass sie bis zu ihren gesundheitlichen Problemen gearbeitet hat, dann aber in Rente gehen musste und nun weniger bekommt. Was sie nicht fair findet und für sie auch zur Folge hat, von ihrem Mann abhängig zu sein. Lachen, das sie den anderen zuordnet, würde sie wohl selbst gerne. Das Enteignete wird gegenüber einer als anders definierten Gruppe als Eigenes angesprochen. Es war offensichtlich nicht sie, die die Regeln aufgestellt hat, welche Frauen ein hohes Armutsrisiko bei Pensionen bescheren. Die Pensionsregeln werden gegenüber dem anderen als Eigentum reklamiert, aber zugleich im Verhältnis zur eigenen Person als fremd angesprochen.
Das ungelebte, für unmöglich gehaltene Leben wird von den anderen gelebt und erscheint somit als möglich. Es ereignen sich zwei Dinge. Einerseits die Ausblendung des eigenen Wunsches auf eine unabhängige Existenzsicherung, andererseits die Unterordnung unter die Instanz, die diesen Wunsch verunmöglicht. Und lachen tun die anderen. In vielen Postings kommt das zum Ausdruck. Die anderen lachen, wo ich nichts zu lachen habe. Die eigene Ohnmacht produziert Machtansprüche gegenüber anderen Ohnmächtigen. Diese genießen in unserer Phantasie, was wir zu genießen wünschen, uns aber durch die herrschenden Verhältnisse verboten wurde. Es ist ein Ringelspiel rebellierender Selbstunterwerfung, eine «Identifikation mit dem Angreifer», wie Anna Freud sie beschreibt. «Du musst nur spielen, dass du selber der gefährliche Mann bist, der dir begegnen könnte», rät die ältere Schwester ihrem kleinen Bruder: «Dann brauchst du dich nicht zu fürchten.» Auf Dauer ein selbstzerstörerisches Spiel.