Niemand rollt so schnell wie ichvorstadt

Ein "versteckter" Spitzensportler im Pool der AugustinverkäuferInnen

Am 15. September des Jahres 2007 brach Mircea Tnase auf, um westwärts zu rollen. Er erregte kein Aufsehen. Keine JournalistInnen versammelten sich rund um den Rollstuhl Mirceas auf jenem Bukarester Platz, den der Abreisende seither nie wieder betreten hat. Dabei hätte das Unterfangen des Behinderten-Spitzensportlers Mircea Tnase mediale Aufmerksamkeit verdient.Sein Plan war, mit seinem Rollstuhl bis zum Wintereinbruch die Strecke durch Ungarn, Österreich, Italien, Frankreich bis nach Spanien zu bewältigen. Und zwar ausschließlich mit seinem Rollstuhl. Rumänien sei ein Land, in dem man Aufmerksamkeitseinheiten nicht aufgrund außergewöhnlicher Leistungen an sich ziehen könne, sondern aufgrund finanzieller Privilegien oder zumindest der Geschicktheit, an private Sponsoren heranzukommen.

Beides war außer Reichweite für Mircea Tnase. An diesem seinem Manko, nämlich an der Absenz von Geld beziehungsweise an der Distanz zu Menschen, die über Geld verfügen, war auch seine Teilnahme an den Paralympics in Peking gescheitert. Da der rumänische Staat kein Interesse hat, die Teilnahme rumänischer Behindertensportler an den Spielen in Peking zu finanzieren, konnten nur jene SportlerInnen nach China fliegen, die Sponsoren auftreiben konnten, ärgert sich Mircea, der sich sowohl im Marathonlauf als auch beim Tischtennis Chancen auf gute Platzierungen ausrechnen hätte können.

Vor etwa zwei Jahren konnte man in einer rumänischen Zeitung einen ganzseitigen Bericht über meinen Landsmann Vasi Stoica lesen, der ins Buch der Rekorde kam, nachdem er die Strecke von 132 Kilometern im Rollstuhl in der Zeit von 24 Stunden bewältigt hatte, erzählt Mircea, mit seinen 50 Jahren immer noch athletisch, dem Augustin. Ich rief in der Redaktion dieser Zeitung an und stellte mich vor: Ich bin der Rollstuhlfahrer, der Vasi Stoicas Rekord um eine Stunde unterbieten kann. Doch auch um ins Buch der Rekorde zu kommen, benötigt man Geld im Hintergrund: Mit seinem Alltagsrollstuhl brauche man gar nicht erst beginnen mit der Jagd auf die Rekorde anderer. Die Voraussetzung ist ein optimaler Rollstuhl, und der muss gesponsert werden.

Zurück zum Aufbruch Richtung Westen, September 2007. In einem Monat war Wien erreicht, das ursprünglich bloß als Station des Durchrollens eingeplant war. Der Grad der Erschöpfung war größer, als er vorausgesehen hatte; die Tatsache, dass Mircea viele rumänische Medien über sein waghalsiges Unternehmen verständigt hatte und von ihnen nicht einmal ignoriert wurde (diese sprachliche Übertreibung wird Mircea später in Wien kennen lernen), wird sich auch nicht sehr motivierend ausgewirkt haben. Nach einer beschwerlichen Reise durch Ungarn, wo er lediglich in Budapest in einem Notquartier der Caritas übernachten konnte, während er sonst im Freien schlief, und wo er seinen Rollstuhl durch Überbeanspruchung in ein veritables Wrack verwandelte, beschloss er in Wien zu bleiben.

Daheim herrscht ja wieder Demokratie!

Für Mircea ist diese Emigration auch ein Statement gegen die systemische und gesellschaftlich verwurzelte Behindertenfeindlichkeit in Rumänien. Menschen mit Behinderungen haben in diesem Land nur wenige Chancen. In der Ceauescu-Periode waren sie versteckt worden oder wurden öffentlich nicht wahrgenommen. Viele sind vollständig auf ihre Familien angewiesen, die wiederum kaum Möglichkeiten haben, sie zu fördern, da der Existenzkampf für alle groß ist. Hilfsmittel gibt es zu wenige. Theoretisch werden zwar Rollstühle finanziert, praktisch ist das Krankenversicherungsbudget dafür aber viel zu gering. Die breite Öffentlichkeit nimmt Behinderte immer noch als hilflose Wesen oder gar als Gottes Strafe wahr. Immer mehr NGOs versuchen zwar, die Lage zu verbessern, Mircea Tnase aber war es leid, vom öffentlichen Verkehr in Bukarest ausgeschlossen zu sein, weil es zum einen keine Niederflurwagen, zum anderen keine Aufzüge in den U-Bahn-Stationen gibt, und er war es auch leid, die Schikanen der Gehsteigkanten als Kette von Sprungschanzen für RollstuhlfahrerInnen hinzunehmen. Die Situation in Wien mutet für einen Rumänen, wie ihr euch vorstellen könnt, paradiesisch an, erzählt Mircea dem Augustin.

Wenn man die Emigration infolge der Ungleichheit der Bedingungen für behinderte Menschen in Bukarest und Wien als Flucht definieren kann, so war der Rollstuhl-Transit die bereits zweite Flucht des Behindertensportlers. Die erste erfolgte 1987 und endete mit einem (halb) gescheiterten Asylantrag in Deutschland. Es war eine Abkehr von einem sich kommunistisch gebärdenden Despotismus. Mircea Tnase bekam kein bleibendes Aufenthaltsrecht in Deutschland, immerhin aber einen temporären Schutz vor Abschiebung aus humanitären Gründen. Diese Gründe verflüchtigten sich nach Interpretation der deutschen Fremdenpolizei nach dem Sturz Ceauescus; schließlich musste Mircea Tnase 1996 zurück nach Rumänien: Dort herrscht ja nun wieder Demokratie, wurde er von den deutschen Behörden belehrt.

Inzwischen zum Wiener geworden, ist Mircea Tnase beim Augustin gelandet. Die Zeitungsverkaufseinnahmen und ein zusätzlicher Hilfsarbeiterjob ermöglichen gerade das Überleben. Doch den Verkauf der Straßenzeitung will er nicht als Berufsperspektive akzeptieren: Wo immer man meinen Kopf und/oder meine Hände braucht, bin ich bereit, meine Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen, sagt Mircea. Schließlich äußert er zwei Wünsche. Erstens sucht er einen Sportverein, der ihm Tischtennistraining mit der Option der Teilnahme an Wettbewerben ermöglicht, ohne die üblichen Mitgliedsbeiträge zu verlangen. Zweitens will er beweisen, dass er schneller ist als sein Landsmann Vasi Stoica. Aber auch in Österreich bräuchte man dazu Sponsoren …

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