Als Ösi-Gast beim elften Berbertreffen
Verkehrte Welt. Auf der langen Fahrt nach Offenburg saß ich in einem Raucherabteil. Eine Mitfahrende kam zu mir und fragte mich, ob ich Feuer hätte. Nein, sagte ich bedauernd, ich bin Nichtraucher. Sie war Raucherin und saß in einem Nichtraucherabteil.
Die Stadt Offenburg liegt im Bundesland Baden-Württemberg, im Regierungsbezirk Freiburg und im Landkreis Ortenaukreis und hat ca. 59.000 Einwohner. Ich kam um 6 Uhr morgens an, folgte der Wegbeschreibung, die mir Wolfgang Jeckel mitgegeben hatte, und fand ohne Schwierigkeiten das St.-Ursula-Heim. Hier wird obdachlosen Menschen Fachberatung angeboten, aber auch mehrmonatige Aufenthalte, stationäre Hilfe und betreutes Wohnen.
Meine Ankunft war auch schon angekündigt. Ich wartete in einem Raum, wo drei Berber anwesend waren, die allesamt rauchten. Berber nennen sich die nichtsesshaften Wohnungslosen in Deutschland, die in Wien als Sandler bekannt sind. Ich hielt den Rauch auf engstem Raum nicht aus und sah mir die nähere Gegend an. Das Wetter war nicht eben optimal dafür, aber Offenburg ist eine wunderschöne Stadt, auch bei trübem Wetter.
Ich kam pünktlich um 9 Uhr im St.-Ursula-Heim an und wurde von Wolfgang Jeckel begrüßt. Wir hatten uns in Brüssel kennen gelernt, beim 6. europäischen Treffen von Menschen mit Armutserfahrungen, und Wolfgang Jeckel war es auch, der mich zum 11. Berbertreffen eingeladen hatte.
Mit der üblichen Verspätung der Akademiker-Viertelstunde begann die Tagung im Fidelisaal. Die Pfarrgemeinde St. Fidelis war seit 1637 ein Kapuzinerkloster und wurde nach dem Weggang der Kapuziner im Herbst 2002 neu errichtet. Die Tagung am Freitag fand in einem geräumigen, hellen und freundlichen Saal statt. Es waren etwa 100 Leute gekommen, darunter Sozialarbeiter, Soziologen, Pfarrer, Mönche und natürlich Berber.
Schon am ersten Tag war ich angenehm von der Organisation und Qualität der Referate überrascht. Treibende Kraft hinter den Berbertreffen ist Wolfgang Jeckel von der LAG (Landes-Arbeits-Gemeinschaft), selbst ehemaliger Berber, unterstützt von Roland Saurer, dem Leiter des St.-Ursula-Heims, Rolf Bürger vom BBI (Bundes-Betroffenen Initiative) Köln und Doris Kölz von BI (Betroffenen Initiative).
Für die Berber war Partizipation ein Reizwort
Die Tagung stand unter dem Motto Klimawandel ’07: Partizipation statt Exklusion, also Teilhabe statt Ausgrenzung. Hier fiel mir auf, dass einige Berber regelmäßig auf die Barrikaden stiegen und bis zum Plafond hochfuhren, wenn das Wort Partizipation ausgesprochen wurde. Es war, als ob für diese Berber Partizipation ein Reiz-Fremdwort oder auch Fremd-Reizwort wäre. Einige Berber verstiegen sich auch zu der Behauptung, das 11. Berbertreffen sei kein wirkliches Berbertreffen gewesen. Womit es eine Kluft gab zwischen den authentischen Berbern und denen, die mit ihnen und für sie arbeiten.
Beim Abschlussplenum am Sonntag konnte ich u. a. auch von meinen Erfahrungen aus meiner Teilnahme an der Kampagne Sichtbar werden berichten. Voraussetzung für die Teilnahme an Sichtbar werden war bzw. ist nicht nur die persönliche Armutserfahrung, sondern auch die Erfahrung in Selbstorganisation. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob einem Betroffenen gegenüber von Partizipation gesprochen wird, der bereits einen gewissen Level erreicht hat, oder mit einem Berber, der noch zu sehr mit den elementarsten Problemen der Selbsterhaltung zu kämpfen hat, und daher auch nicht selbst organisiert ist. Berber, aber auch Sandler, leben nun einmal in losen und eher zufälligen Verbindungen, die einem ständigen Wandel unterworfen sind und somit eine nachhaltige Identität bzw. auch Solidarität (noch) nicht zulassen.
Ein offensichtlich in Armut lebender Nicht-Berber meldete sich zu Wort und prangerte an, dass Leute, die keine Wohnung haben, mehr Geld zur Verfügung hätten, weil sie keine Miete und sonstige Fixkosten bezahlen müssten. Aus meiner Sicht ist das ein gewaltiger Schuss ins eigene Knie, und ich wundere mich doch sehr darüber, dass es vor allem bei den SozialarbeiterInnen zu keinem Aufschrei kam.
Die revolutionären Gedanken des Karmeliter-Fraters
Ein Höhepunkt aber war das Referat von Frater Nepomuk, einem Karmeliter, mit dem Titel Partizipation in der Natur des Menschen ethische und theologische Grundgedanken, von dem beim 11. Berbertreffen nur ein Auszug vorgetragen wurde. Demnach ist es die Aufgabe der Sozialarbeit, Menschen zusammenzubringen und die Teilhabe benachteiligter Bevölkerungsgruppen an Entscheidungsprozessen zu ermöglichen. Ziel ist eine am Menschen orientierte Arbeit. Der partizipative Ansatz wird bei Planungen, Projekten und Programmen genauso vorausgesetzt wie Nachhaltigkeit oder Gerechtigkeit. Es geht dabei darum, die Ausgrenzung durch strukturelle Nicht-Teilhabe wie beispielsweise an Arbeitsmärkten oder durch den Ausschluss von kulturellen Gestaltungsmöglichkeiten aufzuheben, um dadurch sinnerfülltes Leben zu ermöglichen.
Politik habe dafür Sorge zu tragen, dass mitfühlendes, verständiges Verhalten und die Fähigkeit der Menschen zu Solidarität und Partizipation gefördert werden. Regieren bedeutet daher nichts anderes als ständiges Nachdenken über die Natur des Menschen (Philosophisches Credo der Verfassung der USA). Hier sind wir alle gemeinsam, aber auch jeder Einzelne aufgefordert mitzudenken. Uns von Mal zu Mal zu erinnern, ja einzufordern, gleichsam als schlechtes Gewissen zu Wort zu melden, ist das Gebot der Stunde. Ein solches Gewissen kann nicht nur die politische Szene, die durch ihre Außenwirkung eine entscheidende Mitverantwortung am gegenwärtigen Politikverdruss trägt, kräftig aufmischen, sondern es kann vor allem auch weitere Menschen ermutigen, tatsächlich zu partizipieren Anregungen und Anstöße zu erfahren, die hinter das Alltägliche schauen lassen und so Bedürfnisse und Wünsche benennen zu können! Die Welt sei nicht perfekt und werde es niemals sein, aber wir alle und jeder Einzelne seien dazu aufgerufen, an einer Verbesserung ihrer Lebensbedingungen mitzuwirken. Lassen wir also nicht davon ab, auch wenn wir immer wieder Zugeständnisse machen müssen. So weit Frater Nepomuk.
Für die Bodenhaltung nicht geschaffen
Am Abend erlebte ich eine herbe Enttäuschung, als ich in mein Nachtquartier gebracht wurde. In unmittelbarer Nähe vom St.-Ursula-Heim befinden sich die Wärmestuben, ein extra spartanisch eingerichtetes Quartier für Menschen, die ein Leben am Boden und in Penntüten gewohnt sind. Es gab kleine Räume, in denen jeweils ein Tisch mit vier Stühlen stand und sonst nichts. Kein Bett, kein Schrank, vier Bilder von Kindergesichtern mit Tränen, und sonst gar nichts.
Na ja, zum Teil war es mein Fehler, weil ich Wolfgang Jeckel ja geschrieben hatte, dass ich eine Penntüte (in der Sprache der südlichen Bergstämme heißt so etwas Schlafsack) hätte. Ich war hundemüde und mir tat schon nach wenigen Minuten alles weh, aber ich konnte nicht und nicht einschlafen. Nein, ich bin kein Berber, und ich war todunglücklich. Alleine der Gedanke, zwei lange Nächte unter diesen widrigen Umständen verbringen zu müssen, trieb mir den Angstschweiß auf die Stirn. Schon nach zwei Stunden hatte ich genug vom Leben auf dem Boden, und so telefonierte ich mit Wolfgang Jeckel, der aber schon zu Hause war, vier Kilometer weit von Offenburg weg.
So packte ich all meine Sachen zusammen, ging ins St.-Ursula-Heim, wo rund um die Uhr jemand da ist, und gab die Schlüssel zurück. Als ich gefragt wurde, warum ich abreisen wollte, sagte ich, dass ich es am Boden nicht aushalten würde, und so wurde mir ein kleines Zimmer im Heim angeboten, in dem es auch ein Bett gab.
In aller Frühe rasierte ich mich und wollte duschen, doch da lag ein Berber in seiner Penntüte und schlief. Also ging ich in den Speisesaal, wo ab 8 Uhr gefrühstückt wurde. Kost und Quartier waren beim 11. Berbertreffen natürlich kostenlos, nur für die Fahrt musste jeder selbst aufkommen.
Das Frühstück entschädigte für vieles, denn es wurde viel gelacht. Der zweite Tag begann mit Straßentheater in der Innenstadt von Offenburg. Ich war mit einer Sozialarbeiterin und einer ihrer Klientinnen aus Berlin unterwegs und sah nun Offenburg am helllichten Tage. Das Straßentheater, bei dem nicht nur Wolfgang Jeckel mitwirkte, sondern auch einige Sozialarbeiter, aber kein einziger Berber, war eine ganz eigenständige Darbietung zum Thema Klimawandel und menschliche Dummheit.
Nach diesen Anstrengungen gab es ein ausgiebiges Mittagessen und anschließend wurde das Programm im Fidelissaal fortgesetzt. Jetzt wurden Statements von Basisvertretern zu den Auswirkungen der Agenda 2010 (Armut, Gesundheit, Wohnen, Arbeitswelt, Bildung, Partizipation und Menschenrechte) gehalten.
Berberinnen und Berber sind verschieden wie alle Menschen
Im Anschluss daran kam es zu einer Plenumsdebatte zum Thema Konsequenzen aus den sozialstaatlichen Veränderungen, Noch-Chancen der Integration wohnungsloser Menschen und Ausbau der Partizipation sowie Herausbildung eines eigenständigen politisch-sozialen wie kulturellen Mandats Wohnungsloser. Die Plenumssdebatte wurde schon bald zu einer Aktionsplattform der Berber umfunktioniert, und hier gab es zwei ganz unterschiedliche Entwicklungen. Einerseits gab es eine ergreifend schlichte Berberhochzeit, wo die beiden Heiratswilligen den Leiter des St.-Ulrich-Heims, Roland Saurer, baten, ihren Bund des Lebens zu vollziehen. Auf der anderen Seite gab es Berber aus einer anderen Stadt, denen es dort ganz und gar nicht so gut ging wie den Berbern in Offenburg und die unbedingt einen eigenen Radiosender aufziehen wollten, um so auf die Anliegen der Berber in der Öffentlichkeit aufmerksam zu machen.
Die Geschichte mit dem Radiosender und das Straßentheater boten mir am letzten Tag auch die Gelegenheit, im weit entfernten Offenburg vom Augustin zu erzählen.
Berber sind also durchaus Menschen wie andere auch. Es gibt eher angepasste Berber, aber auch völlig unangepasste. Es gibt junge Berber und alte Berber. Es gibt natürlich auch Berber und Berberinnen. Es gibt allein stehende Berber und Berber im Zweierpack. Es gibt Berber mit Hund: zwei Berber waren da mit Uralt-Motorrädern samt Anhänger, in denen Hunde eingepfercht waren. Besonders erschüttert aber hat mich der Anblick einer ganz jungen Berberin mit einem total ausgeflippten Kinderwagen. Berber sind vor allem auch Individualisten.
Nach dem Abendessen gab es im Fidelissaal zwei kulturelle Darbietungen: Die Gruppe Lino Battiston aus dem Saarland brachte Lieder von Vagabunden und der Landstraße. Hier lernte ich neue Wörter bzw. neue Bedeutungen kennen. So etwa das Wort Kunde: damit ist jemand gemeint, der sich im Ort auskennt und alle Schliche kennt, um überleben zu können. Ein guter Kunde ist demnach ein besonders guter Kenner der örtlichen Gegebenheiten. In der Pause spielte ein mutmaßlicher Berber spontan mit der verstärkten Gitarre der Gruppe Lino Battiston und sang dazu.
Zuletzt gab es einen Auftritt von Christine Lauterburg aus Bern, die mit Geige, Jodeln und Gesang einen Mix aus schweizerischem Dialekt und alpenländischer Sinéad O’Connor darbot. Sie verwendete u. a. auch eine bunte Mini-Quetsche und faszinierte mit der souveränen Beherrschung der verschiedensten Stimmlagen, so etwa bei einem ganz toll gejodelten Liebeslied. Eine Berberin meinte nachträglich, sie wäre zwar ein absoluter Hardrockfan, aber die Christine Lauterburg hätte sie vom Hocker gerissen.
An diesem Tag sprach ich oft mit Anselm, einem vor Jahren ausgewanderten Wiener, der kein Berber ist und von manchen Leuten für einen Sozialarbeiter gehalten wurde. Es ergab sich, dass wir die Nacht gemeinsam in meinem kleinen Zimmer verbrachten und wir unterhielten uns noch lange über die Berber und den Rest der Welt.
Beim Abschlussplenum am nächsten Tag lud Roland Saurer mich ein, über die Verhältnisse in Österreich und meine Erfahrungen zu referieren, was ich auch gerne tat. So also erzählte ich von Sichtbar werden, von Brüssel und vom Augustin.
Die letzten Stunden in Offenburg waren bewölkt und verregnet, aber Offenburg ist eine wunderschöne Stadt, wie gesagt auch bei trübem Wetter. Irgendwie fiel mir der Abschied schwer, denn ich hatte hier viele interessante Leute kennen gelernt und eine Menge bisweilen sehr tiefsinniger Gespräche geführt.
Text des Folders zum 11. Berbertreffen
Das 11. Berbertreffen hat sich dieses Thema Klimawandel gewählt, weil alle Welt davon spricht. Auch wir sprechen davon. Nicht nur im Sinne des Klimawandels von Erderwärmung bis zu Wetterveränderungen, sondern wir stellen einen verschärften sozialen, kulturellen wie politischen Klimawechsel fest. Es sind die politisch-sozialen Korrekturen und Reformen, die einen gesellschaftlichen Klimawandel erzeugt haben. Es sind die Tendenzen, gesellschaftliche Gruppen weiter an den Rand zu drängen.
Früher hieß es, Armut versteckt sich, doch hat die Armut in vielen Bereichen unseres Alltags sichtbar zugenommen: Bettelei, Kinderverwahrlosung, Straßenkriminalität, Einkaufsstellen für Arme in Form von „Tafeln“, Arme und Ausgegrenzte als Symbole im öffentlichen Raum. Daneben der maximale bis absolute Reichtum: Luxus-Autos, Kleidung, Schmuck, Schickeria, Besitz, Medienmacht, Menschen mit Geltung und Einfluss.
Können Kirchentage, Gewerkschaftskongresse, Parteitage, Runde Tische gegen Erwerbslosigkeit und soziale Ausgrenzung, Aktionstage, Solidaritätsfonds, Proteste gegen Exklusion und Prekarisierung, Stadtteilarbeit u. a. für mehr Gerechtigkeit sorgen? In den Einrichtungen, den Ämtern, auf Tagungen, auf Kongressen, in Fachausschüssen auf Bundes- und Landesebene? In Berlin und Brüssel?
Wir wissen, dass dort wo Unterdrückung und Leid ist, auch das Rettende wächst! Wie? In Form von Ideen, Aktionen, Netzwerken, menschlicher Nähe, die einladend sind und die ein Klima von Partizipation erzeugen werden.