«Normal gibt es nicht»Dichter Innenteil

Illustration: © Silke Müller

Ein Besuch bei der Telefonseelsorge 142

Eine Stunde und sieben Minuten dauerte das Interview mit der zweiköpfigen Leitung bei der Telefonseelsorge 142. Links von mir die evangelische Leitung, Carola Hochhauser, mit einem großen Herz ausgestattet, und rechts von mir das römisch-katholische Pendant, Antonia Kesselring, mit viel sonnigem Gemüt und Spiritualität. Der Raum war voller fein geschliffener Energie, wohl das Engagement der 160 Ehrenamtlichen und vier Hauptberuflichen – alle bemüht, die Sorgenfalten Wiens zu durchkämmen.

Das braucht Kraft, und sie ist da – wie mit einem Pinselstrich in gut dosierten, den Anrufer:innen angepassten Farben wird ein Akzent gesetzt, ein Samen gestreut, um die vielen kleinen und großen Sorgen in eine andere Dimension zu katapultieren. Das Duo an der Spitze orchestriert seit 20, 30 Jahren von der Basis aus das große Engagement gegen Suizid, psychische Probleme und Einsamkeit. Bei 50 Prozent der Single-Haushalte ist die Einsamkeit ein fundamentales Kernfeld der Betreuung.

Mitgefühl statt Mitleid

Während des Gesprächs stockt in meinem linken Auge eine Träne, die nicht ins Rollen kommen will. Es ist das Engagement, das hier in allen Ecken und Enden zu spüren ist, das mich berührt. Ein Mitarbeiter meint: «Ich gebe viel und ich bekomme auch viel zurück.» Doch die Dimension von dieser «Frucht» ist eine andere als die des herkömmlich Vorstellbaren. Hochhauser: «Ich gehe eine tiefe Beziehung mit meinen Anrufern ein und schließe dabei die Augen, um mich gut adjustieren zu können.» Das Gegenüber ist für das Auge unsichtbar. Man sieht nicht, hört nur die Stimme, die für die Vollprofis schon einiges erzählt. Viele Mitarbeiter:innen haben dieses Nicht-Sehen auch bereits als Vorteil erkannt, Vorteil gegen das Vorurteil. Kesselring: «Ich kann die Betrachtungsweise ausschließen, ob der Anrufer ein Messie ist, ungepflegt, dünn, dick, attraktiv, ‹sich gehen lassend›. Es zählt der Mensch, seine nackte Seele.» Das Telefon ist die beste Waffe gegen abgespeicherte Vorurteile der Mitarbeiter:innen. 90 Prozent aller Anrufer:innen haben, so Hochhauser, eine zittrige Stimme; das reicht für Gefahr in Verzug, für einen notwendigen Einsatz mit Gefühl. Das Gespür für Menschen ist für die gesamte Crew der Telefonseelsorge das A und O. An ständigem Mitleiden würden ja auch die Ehrenamtlichen ersticken. Sie müssen der Situation gewachsen sein, so ­Kesselring. Denn auch sie sollten wieder in ihr eigenes ­Leben zurück nach zwölf Stunden Beistand leisten. Ihre ­Hände, ihr Kopf muss während der Telefonate bei den Anrufer:innen und nicht mit dem eigenen Leben beschäftigt sein oder es sogar auf das Gegenüber übertragen, so der Anspruch von 142. Gleichzeitig ist es von großer Bedeutung, danach wieder in den eigenen Lebensfluss einzutauchen und weiterzuschwimmen.

Überraschungsmomente

Wie denn ein normaler Tag bei der Telefonseelsorge aussehe, frage ich. Beide Chefitätinnen lächeln. «Normal gibt es nicht.» 142 ist so individuell wie jede einzelne Person. Es gibt stets Überraschungsmomente, im Guten wie im Schlechten. Doch oft wird das Schlechte zum Guten mit einem Gedankenanstoß, einem Geistesblitz, der bei den Anrufer:innen greift. Auch Weihnachten 2023 war 142 verfügbar – Beziehungsthemen skizzierten den weiten Themenkosmos samt ominösem Anruf, Jesus habe die Welt zerstört. Ein «Verrückter» für das christliche Weltbild. Doch die ehrenamtliche Mitarbeiterin ließ sich ein auf die Auseinandersetzung und meinte: Jesus habe auch seine Feinde geliebt. Stille am anderen Ende. Ein Floh ist ins Ohr gesetzt. Die Strategie ist, alle Emotionen zuzulassen, ihnen Raum zu geben, um dann zu helfen, das Drehbuch neu zu schreiben. Mitformulieren, mittragen. Mithelfen. Miteinander.
Für Kesselring war es ein prägendes Erlebnis, als eine suizidale Frau anrief, die schwer in den Segeln hing. Segel, die sich nicht mehr fortzubewegen schienen. Sie ließ sie einfach ihr Herz ausschütten. Was laufe denn gut? Ihr Mann würde sie lieben. Damit war der Call gut abgerundet. Zwei Stunden später der erneute Anruf dieser Frau mit erleichterter Stimme: Ihr Mann habe sie angerufen, sie solle sich nichts antun, und er machte ihr ein Liebesgeständnis. Das war nicht zu Weihnachten, aber es war wie Weihnachten. Der Sieg der bedingungslosen Liebe fern von Krankheit, Materialismus, Sorgen etc. Manche sehen es auch als übersinnliches Phänomen. Die Liebe spürt sich gegenseitig, und wer liebt, ist nicht allein, in keinem Zustand. Diese Nächstenliebe wird zelebriert. Auch der interne Zusammenhalt bei der Telefonseelsorge. Telefon-Seel-Sorge: Man sorgt sich um die «Seele» am Telefon. Hochhauser und Kesselring sind die perfekte Ergänzung zueinander. Jedes Gespräch schwingt nach, so ­Hochhauser. Es muss kein Danke sein. Wieder keimt diese helle Energie im Raum auf – mit Herz, Esprit und Geist.
Die Ehrenamtlichen müssen eine einjährige Ausbildung absolvieren – 150 Übungseinheiten mit Praxis und Theorie. Krisenintervention, psychologisches Fingerspitzengefühl und Übung am Telefon sind gefragt. «Unsere Mitarbeiter sind vielfältig, auch schräg. Jeder macht es auf seine Weise, nach seinem gewachsenen Stil, aber aus dem Haus geht nichts raus. Deswegen gibt es auch kein Homeoffice.» Was, wenn ein Mord, eine Vergewaltigung, ein Delikt gestanden wird? Die Doppelspitze ist sofort ­einig: Die Polizei konsultieren. Die Telefonnummer ­würde geknackt werden. Auf illegale Geschichten ließe man sich nicht ein. Da wird mit der Schweigepflicht, Anonymität abrupt gebrochen.

Seelenlandschaft

Die Telefonseelsorge ist die Seelenlandschaft Österreichs, mit Tälern, Gebirgszügen und flachen Gegenden. Seele als transzendentaler Begriff. Seele als Mensch plus Mehr, die große Unbekannte. Diese Seelen ­erzählen nicht nur schiache Geschichten. Sie teilen ­Freude. Zwei Drittel der Anrufenden sind weiblich. Der restliche, der männliche Teil trinkt sich vielleicht auch oft Mut an, bevor er zum Hörer greift, aber insbesondere im neu eingerichteten Chat sind immer mehr Männer vertreten. ­Tabuthemen werden gebrochen wie: «Ein echter ‹Indianer› kennt keinen Schmerz.»
Machte man aus all diesen 120 täglichen Gesprächen eine Zeitungsausgabe, hielte man die Highlights fest, was würde erscheinen? Hochhauser spricht von ganz vielen Bildern, Fotos, Zeichnungen als Abriss. Bilder in den Köpfen der Mitarbeiter:innen, Bilder in den Köpfen der Anrufer:innen, synchrone Bilder, diverse Bilder – eine Synthese von vielem. Einzelwerke, Gemeinschaftswerke. Vielleicht sogar ein Kochrezept, eine Anzeige, eine Liedempfehlung. Kesselring fügt hinzu: «Weltpolitik im Kleinformat.» Inflation, Krieg, Flucht. Die Mitarbeiter:innen der Telefonseelsorge gelangen in sämtliche Hinterhöfe der Welt. Dort, wo die Journalist:innen vielleicht schweigen müssen, steht 142 auf – nicht zur Revolte, sondern zum Spüren und Hören. Denn die Basis, der Untergrund, der menschliche Teppich ist immer ehrlich. Zeitzeug:innen des 21. Jahrhunderts. Es sind Tatsachen ohne Körper, Gesicht, Gestik. Vielleicht spricht die Seele sich auch leichter frei oder rein ohne den Schnick-Schnack einer materiellen Welt.
Doch Belastbarkeit ist ein immenses Thema. Aus diesem Grund ist Supervision einmal pro Monat Pflicht. Der Versuch, jemanden vom Suizid abzuhalten, und die Unsicherheit, ob es gelungen ist, verlangt eine unbeschreibliche Stärke und Vertrauen ins Leben. Umso mehr hat es Hochhauser gefreut, als sie mit einer suizidalen Frau gesprochen hat, und hat es gefreut, als diese in der Früh erneut anrief mit den Worten: «Ja, ich möchte wieder leben.» Das sind Meilensteine der Menschlichkeit, die auch Kesselring unterstreicht. Als Finanziers dieses großen Akts der Humanität zeichnen die Erzdiözese Wien und die evangelische Kirche, auch das Ministerium für Gesundheit ist Mitunterstützer, außerdem viele private Spender:innen.

Pilotprojekt gegen Einsamkeit

Ich verlasse die schmucke Räumlichkeit von 142: Ein wenig nachdenklich, aber auch erleichtert, denn im Jahr 1967 wurde die Telefonseelsorge als Pilotprojekt gegen die Einsamkeit zu Weihnachten mit 30 Ehrenamtlichen von einem Pastor und einer Ordensfrau ins Leben gerufen. Ich denke an meine große Familie im Burgenland, meine noch jungen Eltern, meine Schwestern, meinen Freund:innenkreis. Sie treten vor meinem inneren Auge in Erscheinung wie kleine Wichtel. Wie gut alles ist … Gleichzeitig finde ich es immer noch schade, dass es nicht zu stemmen ist, die Telefonleitungen zu verdoppeln. Bedarf wäre da. Aber die lieben Finanzen, die Kapazitäten der Ehrenamtlichen, die teilweise noch voll im Berufsleben stehen – hauptsächlich um die 50 ­Jahre alt. «Es ist wichtig», sagt ein Ehrenamtlicher so ­banal in einem Satz, wie es halt einfach ist. Aus meinem linken Auge kullert endlich die aufgehaltene Träne – weil alles so schrecklich und schön zugleich ist. Zu Hause meldet sich dann der gedankliche Nachsatz: Die beiden haben gesprüht vor Elan für ihre Sache oder Mission, und hatten doch einen gesunden Abstand. Braucht es doch zwölf Muskeln, um die Stirn zu runzeln, aber bloß zwei, um zu lachen. Warum anstrengen? So die plakativen Worte auf Hochhausers Leiberl. Man muss sich entscheiden, in jeder Sekunde. Für eine neue Lebenseinstellung oder wenn der Schuh drückt: einfach 142 wählen. Es kostet nur ein Wort. Die Ernte kann mitunter das eigene Leben sein.

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