Lokalmatadorin
Hedwig Abraham eröffnet uns auf den Wiener
Friedhöfen, warum das Leben lebenswert ist.
Von Uwe Mauch (Text) und Mario Lang (Foto)
Am Falco-Grab führt kein Weg vorbei! Der Falke ist ein Muss. Weil würde sie die letzte Ruhestätte des letzten weltberühmten Musikers aus Wien achtlos umgehen, würde bestimmt jemand in der Gruppe sofort aufheulen: Rock me, Amadeus! Hedwig Abraham weiß das. Sie arbeitet seit 18 Jahren als staatlich geprüfte Fremdenführerin in Wien. Und man wird sich schwer tun, einen Menschen zu finden, der sich auf den städtischen Friedhöfen besser auskennt als sie.
«Auf dem Friedhof bin ich daheim», erklärt die Insiderin auf dem Weg zur nächsten Grabstein-Geschichte. Und das meint sie schon so, wie sie es gesagt hat. Der Wiener Zentralfriedhof ist nicht nur ihr vertrautes Forschungsfeld, er nimmt de facto auch viel Raum in ihrer täglichen Arbeit ein. Ein statistisch leicht zu belegendes Faktum: Die meisten Toten und Touristen lernt sie hier draußen kennen.
Die Arbeit als Fremdenführerin macht ihr sichtlich Spaß. Während ihr die Gruppe aufmerksam folgt, jetzt in Richtung Baby-Gräber, bilanziert die 46-jährige Wienerin positiv: «Ich mag die Begegnung mit Menschen, das ständige Erforschen der Stadt, die Bewegung in der Natur, unter Anführungszeichen auch die freie Zeiteinteilung.»
Die Anführungszeichen sind unbedingt notwendig. Weil sie ein altes Klischee relativieren. Mindestens im Frühjahr und im Herbst sind Fremdenführer bei Weitem nicht so frei, wie sie vielleicht sein möchten. Da sind ihre Tage oft sehr, sehr lange und nur ganz, ganz selten frei.
Dabei kann man in ihrem Beruf nicht reich werden. Aber das ist für Hedwig Abraham nicht wichtig: «Das Geld ist doch eh nur bedrucktes Papier.» Sie besitzt kein Auto und wohnt in einer für sie und ihre 14-jährige Tochter genügend großen kleinen Wohnung. Auch fürs Reisen braucht sie nicht viel Geld. Die Welt hat sie in jungen Jahren gesehen, nach dem Abschluss der wenig inspirierenden Handelsakademie. Heute verreist sie am liebsten in Wien: «Und da bin ich noch lange nicht durch.»
Abraham ist ein Kind des Meidlinger Gemeindebaus. Noch heute wohnt sie dort, wo sie aufgewachsen ist. Eine bewusste Entscheidung: «Ich wohne gerne dort. Im Hof habe ich ein kleines Stück Grünfläche gepachtet, das hege und pflege ich. Und wenn ich die türkische Nachbarin um ein Ei frage, möchte sie mir am liebsten zehn Eier geben, vorausgesetzt, ich habe zumindest ein Ei, das ich ihr zeigen kann.»
Auf dem Rückweg geht es noch über den Moslem-Friedhof. Auch die Moslems in Wien sind Teil unserer Geschichte. Und dann erzählt die Fremdenführerin auch noch Liebenswertes über diverse Wiener Originale: Über den Calafatti und seine Prater-Ringelspiele, den Wanderprediger Waluliso und nicht zuletzt über den Schneeweiß. Ja, der Schneeweiß! Der als ungekrönter Speedway-König sein Leben tragisch (nach einem Sturz mit seiner Maschine) aushauchte.
Sie war 28, als sie sie zum ersten Mal als Fremdenführerin gebucht wurde. «Es war entsetzlich», erinnert sie sich heute noch. «Ein amerikanisches Ehepaar hat mich ins Hotel Altstadt bestellt, doch ich bin ins Hotel Alt-Wien gegangen. Zum Glück habe ich den Irrtum rechtzeitig entdeckt. Aber gedacht habe ich mir: Na servas, das fängt ja schon gut an.»
Anfangs stand sie noch vor der Tourismuszentrale in der Stadt mit einem selbst gebastelten Schild. Auf dem stand: «Führungen durch die Altstadt». Das Schild war schwer, und wurde schwerer und schwerer, je länger die Führung dauerte. Für sie nicht mehr vorstellbar: «Ich weiß nicht, wie das für mich wäre, wenn ich heute eine mit einem Schild auf der Straße sehen würde.»
Das Reinkommen in den erlauchten Zirkel der Wiener Fremdenführer hat bei ihr gut ein Jahr gedauert. Frau Abraham erinnert sich: «Am Anfang sind meine ganzen Ersparnisse draufgegangen, aber dann ist es langsam bergauf gegangen.» Geholfen haben ihr auch freundliche Kollegen.
«Die beste Werbung ist die Mundpropaganda», sagt sie. Ihr Mobiltelefon läutet. Ein Hotel. Der nächste Auftrag, schon in zwei Stunden! Wieder einmal ist Flexibilität gefragt. Und das Verständnis ihrer Mitmenschen. Weil das nicht alle aufbringen, laufen in ihrem Metier auffallend viele Beziehungen vorzeitig auseinander.
Nach zwei Stunden endet die Friedhofstour wieder beim Tor 2. Und die Gruppe ist sichtlich zufrieden. Es wird jedenfalls laut geklatscht. Manchmal wird auch Trinkgeld gegeben. So wie Schau- oder Fußballspieler bekommen Fremdenführer unmittelbar zu hören, ob man mit ihrer Leistung zufrieden war.
Abends auf dem Heimweg zu ihrem Meidlinger Gemeindebau: Die Füße tun weh, und der Kopf wiegt schwer. In der U-Bahn sagt jemand: «Ganz ehrlich, ich bin froh, dass ich noch einen Sitzplatz ergattert habe.» Die Mühen, die man als Guide auf sich nimmt, wären nicht mit den Mühen der Bauarbeiter vergleichbar. Und doch darf man nach 18 Jahren Arbeit unter freiem Himmel abends müde sein.
Vor dem Schlafengehen noch ein Blick ins Internet. Sehenswert ist auch Abrahams Homepage ein lebendes Lexikon der Wiener Friedhöfe in Wort und Bild. Dort findet sich auch eine Übersicht ihrer nächsten Touren: www.viennatouristguide.at.
Die Lokalmatadore erscheinen seit Anfang 2000 im Augustin. Das gleichnamige Porträtbuch gibt es noch in der Buchhandlung am Spitz: www.buecheramspitz.com.