Das Augustin-Manifest gegen das staatliche Strafen
PS: Wir freuen uns auch auf kluge Verteidigungstexte für dieses Barbarentum; es steckt wohl in uns allen noch ein kleinerer oder größerer Rest davon …
PRÄAMBEL
Das Diskursniveau sinkt und stinkt und sinkt
Christian Broda, sozialdemokratischer Justizminister, hat die gefängnislose Gesellschaft zum Ziel sozialdemokratischer Politik erklärt. In der SPÖ von heute scheint es ausgeschlossen zu sein, dass Menschen mit solchen Visionen in bedeutende Funktionen kommen; und es ist umgekehrt auch zunehmend unvorstellbar, dass Menschen mit solchen Visionen in eine Partei gehen. In der ÖVP sind die letzten Intellektuellen auf Spitzenpositionen in den 90er Jahren vertrieben worden. Rechts von der ÖVP ist das Niveau der PolitikerInnen am besten so zu beschreiben: Wenn einer von ihnen wie weiland Westenthaler einen klugen Satz von sich gibt, ist das einem ausgesprochen glücklichen Zufall zu verdanken und nicht einem Nachdenkprozess. Die gefängnislose Gesellschaft bringt uns die Anarchie, sagte der Ex-BZÖ-Führer. Die Anarchie, ein die Herrschaftsverhältnisse hinterfragendes soziales Experiment, ist in der Tat historisch mit der Idee der Gefängnislosigkeit verflochten. Westenthaler konnte so etwas nur sagen, weil er nicht die Bildung genoss, die nötig ist, um der volkstümlichen und von Medien und Schulen weiter verbreiteten Missdeutung der Anarchie als Gewalt, Gesetzlosigkeit und Chaos entgegenzutreten. Bei den Grünen wären Politiker vom Schlage Brodas auch heute noch denkbar, doch sie drohen von den Fotogenen verdrängt zu werden. Im Übrigen tut die Logik des Parlamentarismus ihr Übriges, um die intellektuellen Potenzen der beteiligten Parteien auszulöschen. Das so genannte Banken-Rettungspaket ist in einem Schnellverfahren, wie es sonst nur in Ausnahmezuständen üblich ist, mit den Stimmen der Grünen beschlossen worden. Was hat die Gesellschaft also von der Restintelligenz, die im Abgeordnetenstatus verblieben ist, wenn sie keinen Alarm schlägt, wenn ein Verbrechen gegen die nächste Generation begangen wird: Die staatlichen Pakete für die fahrlässig handelnden Bankiers führen zu einer unbekannten Dimension von Staatsverschuldung, die durch massiven Sozialabbau abgebaut werden wird.
PARAGRAF 1
Die brave und die böse Gefängniskritik
Der Augustin ist (in Österreich) die Avantgarde der Gefängniskritik. Mit seiner vermeintlichen Radikalität bleibt er aber merkwürdig unreflektiert innerhalb des Systemrahmens, und zwar aus zwei Gründen. Ein Grund ist seine ständige Berufung auf die gefängnislose Utopie. Ausgerechnet die vermeintlich konsequentesten Kritiker des staatlichen Strafens rücken so das Ziel der Abschaffung des Gefängnisses in eine utopische Ferne. Das können auch Justizminister, Chefredakteure, Haftanstaltsdirektoren und Richter unterschreiben. Politischen Willen und gesellschaftliche Lernfähigkeit vorausgesetzt, kann mit der schrittweisen Realisierung der Utopie sofort begonnen werden. Der zweite Grund: Bei jeder sich bietenden Gelegenheit bemühte der Augustin das Klischee vom Gefängnis als Hochschule des Verbrechens und als Integrations- und Resozialisierungs-Hindernis. Als ob es den Inhabern der politischen und wirtschaftlichen Machtpositionen noch um Resozialisierung oder Integration ginge: das sind bloß rhetorische Formeln. Bei der großen Einsperrung der Moderne (Nils Christie) geht es nur noch um nackte Bestrafung, um Disziplinierung, um Kontrolle, um den nachhaltigen Ausschluss einer unproduktiven Minderheit. Wie nachhaltig Vorbestraften der reguläre und zunehmend auch der schwarze Arbeitsmarkt versperrt bleibt, ist kein Geheimnis. Das kritische Argument, die Institution Gefängnis sei unfähig, ihr Klientel zu resozialisieren, verkommt zu einer bloßen Kritik der Ineffizienz dieser Institution. Die Kennzeichnung des Gefängnisses als Hochschule des Verbrechens schadet jenen Strafentlassenen, die sich vom Stigma des Delinquenten lösen zu können glauben.
PARAGRAF 2
Kapitalisten unter sich: gefängnislose Gesellschaft jetzt
In den oberen Etagen der Gesellschaft war die Gefängnislosigkeit nie Utopie. Sie war da, sie ist da, wie selbstverständlich. Die Weltwirtschaftskrise nicht mehr beschönigen könnend, bezeichnen selbst die Mainstream-Medien die Akteure der krisengenerierenden Spekulationsgeschäfte oft sogar namentlich als kriminell, ohne wirklich einen Prozess zu erwarten und auch ohne von ihnen wegen Verleumdung geklagt zu werden. Selbst die Krone schrieb von Kriminalität anlässlich der Information, dass möglicherweise insgesamt rund 100 österreichische Gemeinden durch Spekulationen am Finanzmarkt also durch Veruntreuung öffentlicher Gelder insgesamt 40 bis 50 Millionen Euro verlieren werden. Rote wie schwarze Bürgermeister haben ihre Gemeinden an den Rand des Bankrotts gebracht, weil sie öffentliches Geld in Wertpapiere steckten, die aufgrund der weltweiten Finanzkrise massiv an Wert verloren haben. Jeden Tag bringen die Medien weltweit Informationen über strafrechtlich relevante Plünderungen, über Veruntreuung öffentlicher Gelder zu Gunsten privater Vermögenswerte, über die Auszahlung von Milliarden an Boni und anderen Vergütungen zu einem Zeitpunkt, als das betreffende Unternehmen schon pleite war, über Steuerhinterziehungen durch Auslagerung in Steueroasen. Während KleinstunternehmerInnen bis auf die letzte Wirtshausrechnung geprüft und beim geringsten Steuerbetrug kriminalisiert werden, kennen die Jongleure der großen Zahlen weder den Geruch von Gefängniszellen noch sonstige Formen einer institutionalisierten Rache. Männer wie Dr. Christin Konrad zählen (sich) zu den anständigsten und ehrbarsten Persönlichkeiten des Landes. Eine Statusumkehr ist angesagt, nicht nur auf den Fasching beschränkt.
PARAGRAF 3
Das Gefängnis als Armen- und Zuwandererquartier
Franz von Liszt, der Kriminalhistoriker, der ein Cousin des Komponisten war, sagte am Ende des 19. Jahrhunderts: Sozialpolitik ist die beste Kriminalpolitik. Heute ersetzt die Kriminalpolitik immer mehr die Sozialpolitik. Der Polizei- und Justizapparat ist bei der Rekrutierung seiner Opfer wählerisch: Die Gefängnisse sind mit armen Menschen und mit MigrantInnen gefüllt, wie eine Reihe von Statistiken und Studien belegt. Bettelei oder Herumlungern z. B. sind Verhaltensweisen, die in den Strafrechtsreformen der 1970er Jahren weitgehend entkriminalisiert worden waren. Die Kriminalisierung kehrt in Form von kommunalen Sicherheits- und Ordnungsgesetzen oder in der Hausordnung der mittlerweile halböffentlichen Bahnhöfe wieder: Hier ist sogar das Sitzen auf dem Boden zum Delikt geworden. Die verschärfte Kriminalisierung städtischer Armut schlägt sich in Bettelverboten oder anderen exkludierenden Verordnungen nieder. Städte gelten als Orte des Konsums und der Arbeit: Wer beides nicht den herrschenden Vorgaben entsprechend vollzieht, gilt als störend oder verdächtig. In einer klassenkampflosen Zeit wie heute ist die Justiz ein gesellschaftlicher Bereich, in dem Klassenkampf von oben forciert wird. Zum Symbol dafür ist die Supermarktkassiererin Barbara Emmely in Deutschland geworden, die wegen Unterschlagung eines Pfandbons im Wert von 1,30 Euro gekündigt worden ist. Ein Richter hat die Kündigung bestätigt. Obwohl sein Verbrechen gegen die Idee der Gerechtigkeit tausendmal größer ist als die Tat der Barbara Emmely, braucht er keine Strafe zu fürchten. Nicht im bestehenden Strafsystem, da sein Urteil zwar maßlos ist, aber nicht außerhalb der Rechtssprechung liegt, und nicht im vom uns gewünschten System, wo er prinzipiell nicht weggesperrt wird, sondern im Gespräch mit seinem Opfer, der Verkäuferin Emmely, und einem Mediator die Form der Wiedergutmachung aushandelt.
PARAGRAF 4
13 von 563 in der Sicherheitsabteilung
Die juristische Wissenschaft ist sich weitgehend einig, dass die Gefängnisse voll von Leuten sind, die nicht ins Gefängnis gehören. Wie gering der Utopie-Gehalt des Ziels gefängnislose Gesellschaft ist, zeigt die Situation in Graz-Karlau, einem der größten Strafanstalten Österreichs. Hier gibt es 563 Gefangene (Zahl aus 2007), 13 davon in der Sicherheitsabteilung. Das heißt, der Gefängnisdirektor ist ratlos, wie er diesen Rest von 13 resozialisieren soll. Ein paar weitere Inhaftierte dürfen sich nur an der Seite des Gefängnisdirektors durch das Gefängnis bewegen. Nehmen wir an, ungefähr 50 dieser 563 Inhaftierten gelten als gefährlich. Auf ganz Österreich übertragen: Von den zehntausend Inhaftierten können neuntausend sofort amnestiert werden, ohne dass die Sicherheitslage in Österreich verschlechtert wird. Mit neun von zehn Gefangenen könnten der Staat und die zivile Gesellschaft auch unter der Annahme, ihr Verhalten sei tatsächlich dem gesellschaftlichen Zusammenleben abträglich, ab sofort anders umgehen als mit Haftstrafen. Ihre Kriminalisierung ist politisch gewollt, nicht gesellschaftlich notwendig. Dass eine Person durch das Aufziehen von Marihuana-Pflanzen am Dachgarten Drittpersonen schädigt, glauben nur Konformisten. Nicht einmal diese sollten bestraft werden. Denn entweder ist Konformismus eine Krankheit dann könnten Therapien Erfolg versprechen. Oder es ist ein kriminelles Delikt dann könnten die Delinquenten zu einem Waltzmob am Freitag, dem 13. eingeladen werden, wo sie lernen, wie befreiend das Umgehen von Normen und Verordnungen wirken kann.
PARAGRAF 5
Was tun mit dem unangenehmen Rest?
Die Frage, ob wir Gefängnisse brauchen, reduziert sich demnach auf die Frage: Was tun mit den zehn Prozent? Der Augustin ist aufgefordert, für seine Halbherzigkeiten (siehe PARAGRAF 1) Buße zu tun, z. B. durch die Schaffung einer Diskussionsplattform unter dem Motto Was tun mit den zehn Prozent? Alles zur Beantwortung diese Frage Relevante ist schon gedacht worden; man bräuchte nichts Neues erfinden. Das traditionelle Konfliktregelungs-Wissen nichteuropäischer Kulturen, das nichts von der individuellen Schuld weiß, sondern die Gemeinschaft, aus der der Täter kommt, als wesentlich verantwortlich für seine Entgleisungen sieht, und die so genannte Französische Schule der Kriminalsoziologie stünden zur Synthese bereit. Die Französische Schule ersetzt das Bild des geborenen Verbrechers durch die Theorie des sozialen Milieus. Die Theorie besagt, dass die Umgebung eines Menschen für dessen Eigenarten verantwortlich war. Der Mensch ist demnach nichts ohne die gesellschaftlichen Lebens- und Entwicklungsbedingungen, in die er hineingestellt wurde. Die Begegnungen mit Zimbabwes Ältesten, die in das Buch Hüter der Sonne flossen, haben den in Wien lebenden Schriftsteller Ilija Trojanow davon überzeugt, dass es eine anthropologische Konstante des Ausgleichs gibt. Heute müssen Mörder ins Gefängnis. Unser Volk aber betrachtete das Verbrechen eines Einzelnen als das Verbrechen einer Familie, einer Gemeinschaft. Die ganze Familie musste Entschädigung leisten. Gemeinsame Schuld, gemeinsame Bestrafung. Darum wollte jeder einzelne verhindern, dass ein Mitglied seiner Familie ein Verbrechen beging, erinnert sich Sub-Chief Chikwaka an die Zeit, bevor die Weißen die Haftstrafe nach Afrika brachten. Und Mike Matsosha Hove erzählt: Ein überführter Mörder musste in der Öffentlichkeit eine Frau präsentieren, die anstelle des Ermordeten wieder einen Menschen gebären konnte. Je mehr von den verschütteten alten Ideen, wie man mit Normverletzungen umgeht, und von den zeitgenössischen Pendants in öffentlichen Foren die Rede sein wird, umso barbarischer erscheint die fortdauernde Verteidigung des Gefängnisses.