Nur ned hudelnvorstadt

Orientierungslauf im Gemeindebau

Mit Chip und Karte durch den sogenannten Indianerhof. Einen ungewohnten Anblick bekamen Hannes Gaisberger (Text) und Carolina Frank (Fotos) jüngst in einem Meidlinger Gemeindebau geboten: Orientierungsläufer_innen vom Schul- bis zum Pensionsalter eroberten die Höfe und stöberten nach Posten.

Camillo Fritz Discher und Fritz Dirnhofer haben es sicher nicht schlecht gemeint, als sie vor fast hundert Jahren die Gatterhölzl-Gründe mit mehreren offenen und geschlossenen Höfen und einer Reihenhaus-Siedlung bebauten. Der Otto-Wagner-Schüler Discher und sein Architektenkollege Dirnhofer haben vermutlich nicht an Orientierungslauf gedacht, als sie für das Wohnbau-Programm des Roten Wien die charakteristischen Häuser planten. Doch die verschachtelten Bauten mit ihren Höfen, den kleinen Wegen, Treppen und Durchgängen in leicht abfallendem Gelände bilden ein perfektes Szenario für einen Sport, der sonst in Wäldern und auf Bergen ausgetragen wird.
Orientierungslauf oder kurz OL ist – wie alles, was aus Skandinavien kommt – ein exklusives Vergnügen. Die Szene ist aktiv, aber überschaubar. Seine Wurzeln hat der Sport im militärischen Skilanglauf, ein schwedischer Pfadfindermajor hat ihn zum zivilen Wettbewerb umgemodelt. OL kann in Schweden als Volkssport bezeichnet werden und ist Teil des Schulsports. Neben Skandinavien zählen die Schweiz, Frankreich und etliche osteuropäische Länder zu den Zentren des Sports. In Österreich konnte OL im akademischen und gehobenen militärischen Milieu Fuß fassen. Bierwampen und tiefe Schmähs sind hier ungern gesehene Gäste. Vielleicht ein Mitgrund, wieso es bei uns kein Volkssport geworden ist. Aber das kann sich ja noch ändern.

Der Mann mit dem Plan.

Die Krux an dem Sport ist, dass man eigentlich kaum Ausrüstung braucht, aber eine Menge Vorbereitung. Ohne Plan geht gar nichts. Das Gebiet muss auf eine Karte übertragen werden, Posten müssen eingezeichnet und in der Natur aufgestellt werden. Oder neben einem Mistkübel im Meidlinger Gemeindebau. Das hat Siegfried Seiner gemacht, ein charismatischer Herr mit silbernem Schnurrbart und Haarzopf und sehr muskulösen Beinen. Er hat die Karte gezeichnet und drei unterschiedlich lange Routen angelegt. An den weiß-orangen Posten sind Chipentwerter angebracht, gezwickt oder gestempelt wird schon lange nicht mehr. «Es gibt 30 bis 40 Karten für Wien und jedes Jahr um die zehn kleinen Läufe.» Herr Seiner hat auch die Bewilligung von Wiener Wohnen eingeholt, um in ihren Anlagen laufen zu dürfen. Während man bei einem gewöhnlichen Orientierungslauf mit Jäger_innen und Grundbesitzer_innen verhandeln muss, sind Genossenschaften und Magistratsabteilungen die Ansprechpartner in den Städten. Und nicht alle sind so entgegenkommend wie Wiener Wohnen, deutet Seiner an, ohne das Thema vertiefen zu wollen. In Wiener Parks gibt es derzeit jedenfalls keine Läufe.
Bei einem Sprint in der Stadt sind andere Kriterien entscheidend als im Gelände. Ein distinguiertes Pärchen erklärt mir, dass die topographischen Begebenheiten in der Natur ein wichtiger Faktor sind. Wenn man die Höhenlinien nicht richtig einschätzt, kann man schon mal eine Senke vergebens runter und rauf laufen. Apropos laufen. Das wollte ich ja auch noch machen. Ich muss an dieser Stelle anführen, dass ich befangen bin. Und gefangen. Obwohl ich seit einem Jahrzehnt höchstens den Öffis oder einem Kleinkind, das mir jetzt schon zu schnell ist, nachgelaufen bin, stehe ich am Start. Mit einem Chip, der aussieht wie ein USB-Stick, auf den Mittelfinger geschnallt und auf den piepsenden Countdown wartend. Verdonnert von meinem Chef, selbst Ex-Profi-Orientierungsläufer und Funktionär. Wie der Rest der Firma. Die Hälfte wurde krank oder unabkömmlich, die bessere Hälfte macht das ohnehin bunte Starterfeld noch bunter. Wir laufen die mittellange Sprint-Strecke, 22 Posten verteilt auf 2,8 Kilometer. Ideallinie.

Keine Zeit für Ästhetik.

Wenn es dann piepst, aktiviert man seinen Chip, schnappt sich eine Karte aus dem umgedrehten Stapel und läuft los. Oder schaut erst mal. Nach Beobachtung beider Varianten entscheide ich mich für laufen und dann schauen. Am Anfang funktioniert das ganz gut, aber da sind die Posten noch weniger versteckt, und das Hirn hat noch genug Blut. Im sogenannten Indianerhof gestaltet sich die Sache schon schwieriger. Etliche Bauchentscheidungen erweisen sich als falsch, schnell demotiviert gehe ich und drehe die Karte hin und her. Die bei den Profis umgeschnallten Kompasse würden wohl auch hier, mitten in der Stadt, Sinn machen. Der Festungscharakter der Gemeindebauten, die nur an bestimmten Stellen Durchlass bieten, wird mir unangenehm bewusst. Leider kann ich die Architektur nicht genießen, dass etwa «Loggien kubisch in das Mauerwerk eingeschnitten sind» oder dass «die strenge Würfelform der einzelnen Häuser mit rosa verputzten Erkeranbauten und zartgrün gestalteten, polygonalen Fenstererkern mit Klinkerverkleidungen» durchbrochen wurde, wie es auf der Homepage von Wiener Wohnen in schönstem Architektisch heißt. An einem Eingang befindet sich die Skulptur eines «Indianers», von dem die gesamte Anlage ihren informellen Namen erhalten hat.
Wie beim Cowboy- und Indianer-Spielen irre ich durch die Höfe, spähe hinter Büsche, stehe vor Müllraum-Türen. An mehreren Punkten vergeude ich zahlreiche Minuten und liebäugle mit Abbruch. Mir fällt wieder ein, wieso ich keinen Sport mache. Es mangelt an Ehrgeiz. Erfreulich ist, dass ich kein Seitenstechen habe. Endlich im Ziel muss ich feststellen, dass ein in Straßenkleidung gehender und fidel rauchender Kollege die knapp drei Kilometer wesentlich schneller bewältigt hat. Probieren geht über Studieren wurde also wieder einmal widerlegt. Nur ned hudeln rules. Gedemütigt wie ein dämliches Fabeltier verordne ich mir wieder zehn Jahre Sportpause.

City statt Cruise.

Dabei wäre es ein netter Familiensport, das hat man nicht nur bei den Aktiven gesehen, das bestätigt auch Thomas Wieser, der Chef. «Viele Bewerbe finden in landschaftlich reizvollen Gebieten statt und werden für Familienurlaube genutzt. Dazu ist die Ausrüstung an sich nicht teuer. Aber man muss zu den rar gesäten Wettbewerben meist weit anreisen.» Für das Training braucht man nicht nur eine Karte und jemanden, der den Kurs setzt. Man muss die Gebiete auch ständig wechseln, da man sie bald in- und auswendig kennt.
Natürlich gibt es auch Schmankerl im internationalen Betrieb. Herr Wieser berichtet von Nachtläufen in Venedig und dem Mekka des Sports, dem O-Ringen. An wechselnden Orten – eh klar – in Schweden ausgetragen, nehmen bis zu 25.000 Startende teil. Bei Läufen dieser Größenordnung können die naturliebenden Sportler zum Problem werden und Bodenerosion auslösen.
Die Schwed_innen veranstalten auch Kreuzfahrten in der Karibik, bei der auf jeder angesteuerten Insel ein Orientierungslauf ansteht. Das ist vermutlich nicht besonders klimaschonend. Da könnte Stadtläufen als geradezu nachhaltiger Alternative eine blühende Zukunft bevorstehen. Wien hätte genug Kartenmaterial, ist groß und verwirrend genug. Ich komme gerne zuschauen. Wenn ich hinfinde.