Kunstvoll gescheitert: Stephan «Schuale» Pirker wollte sein Leben lang Skispringer werden – und ist’s irgendwie auch geworden. Nur heimst er damit keine Medaillen, sondern Kunstwerke ein. Text: Christiane Fasching, Fotos: Daniel Jarosch
Wir schreiben das Jahr 1973: Ein Knirps, gerade einmal zwei Jahre alt, steht in Rum/Tirol auf einem Küchenkastl, an den Füßen trägt er die stibitzten Skier seiner älteren Schwester, im Kopf hegt er einen Traum: Stephan Pirker, den schon damals alle nur «Schuale» rufen, will Skispringer werden – und einen Telemark neben den Kühlschrank setzen. Den väterlichen Rat «Aber aufpassen, gell!» quittiert er der Legende nach mit «I tua eh passaufen» – dann springt er. Und weiß, dass er im exakt richtigen Traum gelandet ist.
Schuales erster Sprung ist auf einem vergilbten Foto dokumentiert, das nur eines von unzähligen Dokumenten von der Sehnsucht nach Freiheit ist, vom Wunsch, einem Adler gleich durch die Lüfte zu schweben. Mehr als vier Jahrzehnte später geistern durch Schuales Kopf noch immer abgehobene Phantasien. «Einmal in meinem Leben will ich vom Bergisel springen», fabuliert er und hüpft gedanklich in die 1970er-Jahre zurück, wo er bei einem monetären Missverständnis landet. «Die Ausrüstung fürs Skispringen war unheimlich teuer: Und irgendwie gingen alle davon aus, dass wir das selber bezahlen müssen. Dabei hätte die Kosten der Skiverein übernommen», erzählt er – und wetzt aufgezwickt durch sein Atelier im Künstlerhaus Büchsenhausen. Fast so, als würde er die aufkommende Wehmut in Grund und Boden stampfen wollen.
Bekanntschaft mit Heikki Ylipulli.
In Schuales Kunstkämmerchen sieht’s aus wie im Inneren einer Schneekugel, gestaltet von Matti Nykänen (1963–2019) nach einer ausgelassenen Siegesfeier. Hier türmen sich Devotionalien von nordischen Skihelden, egal ob sie nun im Parallel- oder V-Stil Erfolge feierten, hier stolpert man aber auch über einen Schlitten mit Rückengitarre und die Baupläne für ein singendes Snowboard – allesamt Objekte, die nicht entstanden wären, wenn Schuales Traum vom Fliegen nicht geplatzt wäre. Aber der Reihe nach: Nachdem ihn auch sein Sportlehrer in der Hauptschule, der spätere FC-Tirol-Trainer Helmut Kraft, auf den Boden der Realität holte und ihm mit Nachdruck verklickerte, dass er es nicht mehr zum Skisprung-Profi schaffen werde, ließ sich Schuale zunächst zum Maschinenbauer und später zum Pflegeassistenten ausbilden. Der Weg der Vernunft währte aber nicht für immer. Mit Mitte 30 krempelte der ausgebremste Möchtegern-Adler sein Leben noch einmal um – und begann ein Studium an der Kunstuni in Linz. Seine Wintersportleidenschaft kam ihm dabei zupass: Schuale experimentierte kunst- und effektvoll mit diversen Sportgeräten, brachte Skeleton-Schlitten, Snowboards und Carvingskier zum Klingen, tüftelte an einem metallischen Skisprungtrainer und zog im Jahr 2006 zur Finalisierung seiner Diplomarbeit, die unter dem Motto «Jumping Sound System 013» stand, für acht Monate ins finnische Rovaniemi. Nahe dem Polarkreis, wo der Weihnachtsmann ein eigenes Postamt besitzt, wurden dann auch Schuales Bubenträume wahr. Kaum mit seinem alten Wohnmobil namens «Humpulli» im hohen Norden angekommen, machte er die Bekanntschaft mit Heikki Ylipulli, einem ausgedienten finnischen Skisprung-Rabauken, der dem Schanzen-Fanaten die Chance gab, abzuheben. Im Austausch dazu gab’s für den Finnen einen Crash-Kurs in Sachen experimenteller Kunst. «Auf der Uni war ich damals selten, stattdessen bin ich wie ein Irrer gesprungen», erinnert sich der reife Überflieger an die Zeit in Lappland zurück – und berichtet stolz von seinem weitesten Satz, den er nahe der 50-Meter-Marke setzte.
Landung auf der Leinwand.
Zurück in Tirol sollte das Feuer fürs Skispringen munter weiterglimmen. Zuletzt bastelte Schuale an einem Sprungsimulator, der sich in Form einer Seilschaukel auf Bäumen montieren lässt – und schwindelfreien Menschen mit einer gehörigen Portion Körperspannung die Möglichkeit gibt, kurzzeitig in den Genuss des Fliegens zu kommen. Wer den Absprung wagt, mutiert aber auch zum Künstler: Die Sprungskier werden auf der Unterseite nämlich mit Farbe bestrichen, zur Landung setzt man auf Leinwand oder Papier auf – und hinterlässt somit farbenfrohe Spuren, die dokumentieren, ob Kacherl-Alarm oder Telemark-Jubel angesagt ist. Präsentiert wurde die Mischkulanz aus Sport- und Kunstobjekt im Oktober beim ersten «Jumping Printing Contest» auf Büchsenhausen. Mittendrin statt nur dabei waren auch zwei Tiroler Skisprunglegenden, zu denen dereinst nicht nur Schuale voll Verehrung aufblickte: Ernst Vettori und Andreas Felder ließen sich nicht zwei Mal bitten, als sie zum etwas anderen Sprungevent geladen wurden und dabei Kunstwerke hinterließen, die im Zuge der Nordischen Ski-WM 2019 in einem der Tiroler Landesmuseen ausgestellt worden sind. Dass die beiden Überflieger ganz unprätentiös ins kalte Performance-Wasser sprangen, darf durchaus als Freundschaftsdienst gewertet werden: Schuales bedingungslose Liebe zum Skisprung ist auch den beiden WM- und Olympia-Abräumern nicht verborgen geblieben – aus dem Fan von einst ist längst ein Kumpel geworden.
Schuale hoffte auch, den gleichaltrigen, japanischen Flugsaurier Noriaki Kasai, der seit 30 Jahren im Skisprungzirkus mitmischt, zum Kurzzeitkünstler machen zu können und ihn in seinen Sprungsimulator zu schnallen. Das ist ihm zwar bis dato, wie der Sprung über die Bergisel-Schanze, sein sportlicher Traum, noch nicht gelungen, aber mit Adam Malysz konnte wenigstens ein würdiger Ersatzmann für Noriaki Kasai gefunden werden. Und wer weiß, vielleicht ermöglicht im Gegenzug die polnische Skisprunglegende dem Tiroler Künstler über den großen Bakken in Zakopane zu gehen.
Christiane Fasching
Freundlicherweise von der Tiroler Straßenzeitung 20er und INSP.ngo zur Verfügung gestellt und von der AUGUSTIN-Redaktion aktualisiert.