Obdach für alle!tun & lassen

Foto: © Anne Brockmann

Vor zwei Jahren beschlossen die EU-Mitgliedstaaten, Obdachlosigkeit bis 2030 zu überwinden. Was hat sich seither in Deutschland und in Österreich getan?

 

Am 21. Juni 2021 trat Nicolas Schmit in Lissabon für eine Erklärung vor die Mikrofone. Der EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte gab bekannt, dass sich die 27 Mitgliedstaaten zu konkreten Schritten verpflichtet hätten, um bis 2030 die Obdachlosigkeit in der Staatengemeinschaft abzuschaffen. In Stuttgart bekommt Eddie von all dem nichts mit. Wie auch?! Er hat kein Handy, kein ­Radio, keinen Fernseher – nichts, was ihm das Weltgeschehen nahebringen könnte. Eddie, der in Wirklichkeit anders heißt, ist 38 Jahre alt und lebt seit 20 Jahren auf der Straße. An diesem heißen schwülen Tag müsste er eigentlich viel mehr trinken, aber dann bräuchte er auch häufiger eine Toilette. Toiletten sind rar und teuer in der Stuttgarter Innenstadt. Außer­dem muss Eddie schauen, dass die Sachen in seinen Tüten nicht nass werden.
2021 haben europaweit jede Nacht rund 700.000 Menschen auf der ­Straße geschlafen. Das waren 70 Prozent mehr als noch zehn Jahre zuvor. Zu den Unterzeichner:innen der Erklärung von Lissabon über die Europäische Plattform zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit zählen als EU-Mitgliedstaaten auch Deutschland und Österreich.

Deutschland

Die Ampel-Regierung in Deutschland aus SPD, Grünen und FDP hat das Ziel, bis 2030 Obdachlosigkeit abzu­schaffen, in ihren Koalitionsvertrag aufgenommen und darin proklamiert, einen Nationalen Aktionsplan dafür aufzulegen. Dieser lässt bis dato auf sich warten, soll aber im Laufe dieses Jahres erarbeitet und verabschiedet werden. Zum Ende des vergangenen Jahres hat die deutsche Bundesregierung immerhin den versprochenen ersten Wohnungslosenbericht vorgelegt. Zum 31. Januar 2022 waren in Deutschland 263.000 Menschen wohnungslos, etwa 7.000 mehr als im Jahr davor, wobei es sich hier um eine Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe handelt. Ein aktueller Wohnungslosenbericht soll fortan alle zwei Jahre erscheinen.
Über erste Ideen, die sich auch im Natio­nalen Aktionsplan wiederfinden dürften, wurde in Deutschland schon viel diskutiert. Zuallererst ist da sicherlich der Wohnungsbau zu nennen. In Deutschland sollen jährlich 400.000 neue Wohnungen entstehen, wovon 100.000 Sozialwohnungen sein sollen. Die Redaktion des Hamburger Straßenmagazins Hinz&Kunzt hält diese Zahlen angesichts der Rohstoffknappheit und des Fachkräftemangels sowie des Ukraine-Krieges für nicht haltbar und hat die Bauministerin mit ihren Zweifeln konfrontiert. Geywitz erwiderte darauf, dass die Zahlen schlicht und ergreifend den «tatsächlichen Bedarf» widerspiegeln. Wie wieder mehr Wohnungen in den Besitz der ­öffentlichen Hand gelangen können, um den Mietwucher einzudämmen, mit ­dieser Frage hat die Bundesregierung eine Berliner Expert:innenkommission beauftragt. Auch Enteignungen von Wohnungsunternehmen werden dabei geprüft. Neben ­Ideen für neuen Wohnraum soll der Natio­nale Aktionsplan vor allem Ansätze für die Prävention von Obdachlosigkeit enthalten, diesen sollen Kommunen, Länder und Träger der Wohnungslosenhilfe gemeinsam erarbeiten.

Österreich

Während man in Deutschland überwiegend Fragen, aber noch keine Lösungen hat, steht man in Österreich vor noch größeren Schwierigkeiten. Anders als in Deutschland gibt es weder in der österreichischen Verfassung noch im Bundesgesetz eine Rechtsgrundlage für die Bereitstellung von Wohnungslosenhilfe. Auch aufgeschlüsselte Daten, wie sie im Nachbarland seit Neuestem durch den Wohnungslosenbericht zur Verfügung stehen, fehlen. Klar ist nur: Wohnungslosenhilfe funktioniert überall in Österreich anders. In einem ausführlichen aktuellen Bericht von Amnesty International heißt es: «Aufgrund regionaler Unterschiede und historischer Entwicklungen ist die Wohnungslosenhilfe in Österreich nicht einheitlich geregelt, sondern unterscheidet sich je nach Bundesland sowie innerhalb der einzelnen Bundesländer».
Ein gesetzliches Kauderwelsch also. Allen ­gemeinsam ist nur eine harte Wirklichkeit: Wer in einem Bundesland keinen Anspruch auf Sozial­hilfe hat, ist auch vom Zugang zur Wohnungslosenhilfe in diesem Bundesland ausgeschlossen. Sozialhilfeberechtigt sind nur Betroffene, die ­ihren aktuellen Wohnsitz im jeweiligen ­Bundesland ­gehabt haben, bevor sie wohnungs- oder obdachlos geworden sind. Außerdem müssen sie die österreichische Staatsangehörigkeit oder einen gleichwertigen Status besitzen, um Zugang zur Wohnungslosenhilfe im jeweiligen Bundesland zu bekommen, sowie sich in einer sozialen Notlage befinden und bereit sein, diese zu ­überwinden, zum Beispiel durch Arbeit. Denen, die diese Vorgaben nicht ­erfüllen, stehen lediglich die sogenannten Winterpakete offen – rein humanitäre Maßnahmen, die sicherstellen, dass in den kältesten Monaten des Jahres niemand im Freien übernachten muss.
Der Wohnungsmarkt in Österreich gilt als ähnlich angespannt wie in Deutschland. Noch dazu wartet er aber mit befristeten Mietverträgen auf, die hierzulande mittlerweile zur Norm geworden sind.

Finnland

Aus österreichischer Sicht scheint ein Blick nach Deutschland also durchaus lohnenswert, wenn es um die Frage der Bekämpfung von Obdachlosigkeit geht. In Deutschland schaut man gern noch weiter in den Norden – nach Finnland nämlich. Denn mit Housing First, einem Programm des finnischen Staates, hat das Land seine Obdachlosigkeit mehr als halbiert – von 8.260 im Jahr 2008 auf 3.686 im Jahr 2022. Das Vorgehen? Stiftungen kaufen oder bauen Wohnraum und stellen diesen zur Verfügung. Obdachlose Menschen sind Mieter:innen der Wohnung, die Miete bezahlt der Staat. Sozialleistungen wie medizinische und psychologische Betreuung und Unterstützung bei Behördengängen werden angeboten, sind aber freiwillig in Anspruch zu nehmen und nicht etwa Voraussetzung, um die Wohnung behalten zu können.
Eddie in Stuttgart weiß von all dem wahrscheinlich auch heute noch nichts und hat ­hat ­aktuell vermutlich ganz andere Sorgen.

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