Obdachlos in Warschautun & lassen

Die neoliberale «Schocktherapie» in Polen hat große Armut hervorgebracht

Nicht nur im harten Winter haben es Obdachlose in Warschau schwer. Auch Stigmatisierung, Alkohol und Missbrauch sind große Probleme. Es gibt aber Orte, an denen geholfen wird. Florian Bayer hat sie besucht.

Erzählt Gabrielle Głodek von ihrer Arbeit in Warschau, so spürt man ihre Energie und Motivation. Seit knapp fünf Jahren leitet sie das Obdachlosen-Tageszentrum der Heilsarmee in der ul. Ząbkowska, nahe dem Warschauer Ostbahnhof. Auch wenn der harte polnische Winter endlich vorbei ist: Das Leben als Obdachlose_r ist das ganze Jahr über schwer, das weiß sie von den unzähligen Geschichten, die sie hier tagtäglich hört.

Die gebürtige Französin, die fließend Deutsch und Polnisch spricht, erzählt von einem Mann, der jahrelang am Ufer der Weichsel geschlafen hat und einen Biber als einzigen Freund hatte – und als «Wachhund». Von Einzimmerwohnungen ohne Heizung, in denen drei Generationen zusammenleben und froh sind, wenn sie die Miete aufbringen können. Von häuslicher Gewalt, Alkoholismus und Menschenhandel, aber auch von der Freude, die viele obdachlos Gewordene ausstrahlen, wenn sie sich erstmals wieder wertgeschätzt und aufgehoben fühlen.

Liebe.

Hier im Tageszentrum der Heilsarmee können sie das. Es befindet sich in Praga-Północ auf der östlichen Seite der Weichsel, der ärmsten Gegend Warschaus. Obwohl die Stadt sich bemüht, den Bezirk herauszuputzen und auch mehr und mehr Student_innen hierher ziehen, ist Praga immer noch das Viertel mit der höchsten Kriminalität und den meisten sozialen Problemen. Als sie selbst für ein Jahr in diesem Viertel gelebt hat, sah Głodek häufig Müllhaufen brennen, auch Prügeleien und sogar Messerstechereien vor den Alkoholgeschäften hat sie nicht selten miterlebt.

Davon ist an diesem sonnigen Wintertag im März aber nichts zu merken: Obwohl das Tageszentrum eigentlich erst am Nachmittag aufmacht, sind um 11 Uhr schon die ersten Leute da, um sich bei heißem Schwarztee aufzuwärmen. Die Stimmung ist gut: Manche lesen, andere spielen Karten, viele sind in Gespräche vertieft. «Sie lieben diesen Ort, denn wir verlangen nichts von ihnen. Sie können unter sich sein, sich aufwärmen. Und wenn jemand auf dem Tisch einschläft, ist das auch okay», sagt Głodek. Einmal die Woche geben sie und ihr kleines Team auch Suppe, Brot und heißen Tee beim Warschauer Ostbahnhof aus.

Auch ihr Mann, zwei Angestellte im Kinderhort, eine Verantwortliche in Sachen Menschenhandel, eine Sozialarbeiterin und zwischen vier und acht freiwillige Helfer_innen arbeiten für die Heilsarmee in Warschau. Pro Tag kommen zwischen 80 und 100 Obdachlose, oft stehen sie bis an die Straße. Ein zweites Zentrum der Heilsarmee im Stadtzentrum soll noch heuer eröffnen. Das braucht es auch, denn offiziellen Angaben zufolge gibt es in Warschau 2.700 Obdachlose, in ganz Polen 33.400. Die Dunkelziffer dürfte freilich wesentlich höher liegen, vor allem in der Hauptstadt.

Armut.

«Die Kluft zwischen Reich und Arm ist hier in Polen viel tiefer als in Westeuropa. Kommt es zu ernsthaften finanziellen Schwierigkeiten, wird man kaum aufgefangen», sagt Głodek. Ein Existenzminimum, das man nach Abzug aller Schulden vom Monatslohn behalten darf, gibt es in Polen nicht. In der Praxis bleibt oft nichts übrig, und wer noch arbeiten kann, tut dies oftmals schwarz, um irgendwie über die Runden zu kommen.

Die vielen Armen sind auch eine Spätfolge der neoliberalen «Schocktherapie», der das Land in kürzester Zeit von seinen neuen Regierungen nach 1989 unterzogen wurde. Auch wenn Polen als Vorzeige-Transformationsland gilt und die wirtschaftliche Entwicklung insbesondere nach dem EU-Beitritt steil bergauf ging, so gibt es viele, die vom Aufschwung nicht mitgenommen wurden. Diese Kontraste sieht man in Warschau überall: Schicke Shoppingmalls reihen sich an eher versiffte Regionalbahnhöfe, Hipster-Frisöre, die man so auch in Berlin finden könnte, an triste Mietskasernen.

Die Obdachlosen werden oft aber übersehen: Die meisten von ihnen schlafen in Hauseingängen oder Bauruinen, einige wenige haben das Glück, in einer der Schlafstätten unterzukommen. Vor allem für Frauen gibt es aber nicht genug Orte, und viele wollen auch gar nicht, dass man ihnen hilft. Denn zu den finanziellen Schwierigkeiten kommt die soziale Ausgrenzung: «Wer kein Geld verdient, fühlt sich nicht zugehörig zur Gesellschaft. Die Scham und das Stigma sind noch viel größer als in Westeuropa», sagt Głodek.

Ein Problem sind neben dem fehlenden Auffangnetz vor allem die extrem gestiegenen Mieten in Warschau, nicht selten eingetrieben von kriminellen Miethaien. Wer es sich leisten kann, kauft rasch seine eigene Wohnung – das rentiert sich in Warschau bereits nach durchschnittlich zehn Jahren im Vergleich zu einer Mietwohnung. Bei Schwierigkeiten mit dem Abbezahlen des Kredits nimmt das Elend aber seinen Lauf. Sozialen Wohnbau gibt es wenig, auch wenn die Stadt nun große Summen in die Hand nehmen will, um das zu ändern.

Alkohol.

Ein großes Problem, vor allem unter den Ärmsten der Armen ist der Alkohol. Kleine Geschäfte gibt es an jeder Ecke, die meisten sind 24 Stunden am Tag geöffnet. Obwohl das Trinken in der Öffentlichkeit bei hohen Geldstrafen (100 Zloty oder umgerechnet rund 25 Euro) verboten ist, sieht man es tagtäglich. Wer sich Bier und Wodka nicht leisten kann, greift zum lilafarbenen Methylalkohol F16. «Das ist ein industrielles, meistens stark verschmutztes Reinigungsmittel, das illegal für einige Groschen hier verkauft wird», berichtet Głodek. Wer unbedingt trinken muss, schrecke auch vor dem Satz nicht zurück, der sich am Flaschenboden des hochprozentigen Putzmittels ansammelt. «Das ist grauenhaft! Die Leute werden extrem schnell betrunken und abhängig, viele verlieren den Verstand.» Oft zerstört der Alkohol noch den letzten Rest an Selbstwertgefühl, den die Menschen haben. Mit dem Trinken einher geht meist Gewalt, sagt Głodek. «Es ist erschreckend, wie oft uns Frauen von sexuellem und anderem Missbrauch erzählen. Sie suchen sich meist keine Hilfe, weil sie fürchten, man glaube ihnen ja doch nicht. Viele wollen aus persönlichen Gründen auch gar nicht zur Polizei.»

Auch der Kampf gegen Menschenhandel gehört zur Arbeit der Heilsarmee, die sich auch in drei anderen größeren Städten Polens betätigt. Viele Arme gehen mit der Hoffnung auf ein besseres Leben ins Ausland, dabei täuscht leider oft der erste, durchaus positive Eindruck. «Auch wenn der erste Job, etwa am Bau, noch okay ist: Der zweite oder dritte ist es dann nicht mehr», sagt Głodek. Wenn sich manche «ihrer» Leute allen Warnungen zum Trotz zu diesem Schritt entschließen, versucht die Heilsarmee telefonisch mit ihnen in losem Kontakt zu bleiben. Einer jungen Frau, die in Deutschland dann doch kein eigenes Zimmer bekam und der «angeboten» wurde, bei ihrem Chef zu schlafen, konnte die Heilsarmee das noch ausreden. Sie ist wieder wohlbehalten zurück in Polen, aber nicht alle haben dieses Glück.

Die Arbeit geht den Helfer_innen also nicht aus. Wo die offiziellen Institutionen zu wenig tun, springen oftmals die katholische Kirche, aber auch neue freiwillige Initiativen ein, etwa Warsaw Smile. Seit einem knappen Jahr geben Freiwillige, teils zugewanderte Sikhs aus dem Punjab, jeden Sonntag am Kulturpalast indisches Essen an Obdachlose aus. Neben Indern und Polen helfen auch Franzosen, Briten und andere Minderheiten beim Essenausgeben – die Religion spielt keine Rolle. Genauso wenig wie bei der Heilsarmee. Gabrielle Głodek sagt: «Wir wollen den Menschen bedingungslos helfen. Darum geht es.»

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