Odessa-Mama und ihre Hundevorstadt

Wo ein Denkmal einfach umgedreht wird

Cordula Simon kehrte nach einem Studienaufenthalt 2009 als freie Autorin von 2011 bis 2014 nach Odessa zurück. Der Artikel entstand nach einem Besuch 2017. Die Fotos stammen von Carolina Frank, die unabhängig von Cordula Simon im Frühjahr

Odessa besuchte.

Der Akazienduft, der die Häuser schwer umhüllt hat, ist in den letzten Wochen verschwunden. Stattdessen fallen die Pollen wie Schnee von den Bäumen. Sie sammeln sich am Rand der Bürgersteige. Es ist schon dunkel geworden. Chum lacht und zündet sie an. Sie flammen kurz hell hoch. Wir wandern durch das Stadtzentrum. Die Straßen sind im Schachbrett angeordnet. Jede Straße ein Name und am Anfang der Straße, wo das Meer beginnt, die Statue. Am Anfang der Jekaterininskaja steht Jekatarina die Große umgeben von ihren treuesten Adeligen. Chum lacht wieder: «Die stehen da aufgrund ihrer Standhaftigkeit.» Jekatarina hat einen Ruf. Nur ein paar Schritte weiter am Primorskij Boulevard, dem Boulevard vor dem Meer, steht der Duc de Richelieu am Anfang der Richeljevskaja. Verirren kann man sich nicht. Die Lichterketten machen den Boulevard vor dem Hafen zu einem romantischen Treffpunkt. Vor ein paar Stunden flanierten hier noch die Familien, kauften Zuckerwatte und ließen sich mit den Tieren auf der großen Treppe, der Potjomkinskaja, fotografieren, und nun sieht man Paare auf den Bänken und einige Straßenmusikant_innen. Der Duc de Richelieu hält eine Schriftrolle in der Hand. Chum kratzt sich am Kopf, lacht wieder: «Nachts von der Seite kann man sehen, wie der Duc …» Er deutet eine Handbewegung an. Ich kenne das russische Wort für «wichsen» bereits. Auch der Duc hat einen Ruf.

An einem Ende des Boulevards ist das Rathaus, davor Alexander Puschkins Büste. In meinem Reiseführer stand: Die Odessiten liebten Puschkin so, dass sie sich nach der Orangenen Revolution weigerten, das Denkmal zu entfernen. Die ukrainische Regierung hätte es als unangebracht empfunden, dass ein russischer Schriftsteller auf ein ukrainisches Regierungsgebäude blickt. Die Odessiten hätten Puschkin kurzerhand umgedreht. Puschkin blickt seither auf die Liebenden am Boulevard. Ich staune, wie man ein Denkmal dieser Größe einfach so umdrehen kann. Chum lacht wieder, mit mir hat er viel zu lachen: «Zwei Freunde und ein Kran.» Er zwinkert mir zu. Wir kennen uns erst seit zwei Tagen, eine Zufallsbekanntschaft, weil ich vergessen habe, dass man in der Öffentlichkeit hier nicht lächelt, denn es bedeutet, dass man sich mit jemandem unterhalten will. Knappe Kleidung wäre keine Einladung, ein Lächeln schon. Ich kann kaum aufhören zu staunen: Ich habe den Mann gefunden, der Puschkin umgedreht hat. Schließlich, so meinte er, muss Puschkin doch am Anfang der Puschkinstraße stehen. Man braucht ihn hier.

Wir gehen in eines der Cafés auf der Deribasstraße, der Prunkstraße Odessas. Die Cafés hier sind mit viel Liebe eingerichtet, und der Service zeugt von einem Luxus wie aus der Zarenzeit. Vor mir steht ein Kännchen mit geschmolzener Schokolade, um meinen Kaffee zu süßen, das Interieur ist elegant, beinahe im Wiener Stil gehalten. Auch in L’vov, sagt Chum, habe man Wiener Kaffeehauskultur. Am Nebentisch sitzt eine junge Frau mit einem älteren dicklichen glatzköpfigen Mann, der ihr Fotos zeigt: «This is my house and this is my pool, and that’s my grandchildren.» Die Dolmetscherin einer Partneragentur übersetzt.

Am Radio-Rynok findet man alles.

Das Ladegerät meines Telefons ist letzte Nacht bei einer kleinen Spannungsschwankung kaputtgegangen, ich werde ein neues brauchen. Chum beginnt von den Märkten zu erzählen. Für so etwas fährt man am einfachsten zum Radio-Rynok. Hinter uns sitzt Leonid Baratz, der sich schon früh einen Namen als Restaurantkritiker gemacht hat, jetzt ist er Mitte zwanzig und hat bereits eine eigene lokale Fernsehsendung: «Ja, der Radio-Rynok, da findet man alles. Da ist auch viel vom Lastwagen gefallen.» Beide lachen. Leonid erzählt davon, dass er sein Mobiltelefon verloren hat. Als er am Radio-Rynok das gleiche Modell nochmals kaufen wollte, waren seine Nachrichten-Kontakte noch eingespeichert. Umgerechnet zwei Euro hat er dafür bezahlt. Für Leonid ist das nicht viel, für andere schon. Wer sich die touristischen Kaffeehäuser auf der Deribasovskaja nicht leisten kann, sitzt in normalen Restaurants außerhalb des Stadtkerns. Es ist eine Stadt der Kontraste, man sieht fast nur Lexus und Lada.

Zu verhungern allerdings dürfte in dieser Stadt schwierig sein: An Lebensmitteln produziert die Ukraine nahezu alles selbst. Der fallende Griwna hat an der Lebensrealität vieler am Ende nur wenig verändert. Egal ob am Strand, am Büchermarkt oder am großen Flohmarkt, der sich wöchentlich zwei Tage lang fast über ein ganzes Stadtviertel erstreckt, überall wird gekochter Mais, Salat, Tee und Bier verkauft. Vor allem findet man hier noch viele Privatverkäufer_innen, die ihre Dachbodenfunde veräußern, seit die große Krise begonnen hat. Schon 2009 tranken die Ukrainer_innen «Za nas, za vas, za njevte i za gas.» (Auf uns, auf euch, aufs Öl und aufs Gas.)

Am großen Markt im Stadtzentrum darf man gar alles kosten, bevor man sich zum Kauf entscheidet. Für Chum eine Kindheitserinnerung: jeden Sonntagvormittag mit dem Vater am Privoz frühstücken zu gehen, hier ein Häppchen probieren, da ein Häppchen probieren. Ein wenig Karottensalat, ein Stückchen Apfel, verschiedenste Käsesorten und ein bisschen Bliny.

Untergrund bedeutet tatsächlich im Untergrund.

Am Abend bringt Chum mich in ein Untergrundlokal. Hier bedeutet Untergrund tatsächlich im Untergrund: Man geht durch unbeschriftete Holztüren in Häuser, Treppen hinunter und wandert durch den einen oder anderen Keller, bevor man vor dem Sicherheitsdienst eines Lokals steht. Diese Clubs ziehen oft um, und man muss sie immer wieder aufs Neue suchen. Es ist ein Rockclub, in dem die Kellner_innen selbst die Wände bemalt haben. Wodka wird hier in Teekannen serviert.

Auf dem Nachhauseweg begleitet uns ein Rudel Hunde. Straßenhunde gibt es hier viele, und tagsüber schlafen sie meist friedlich auf Straßeninseln. Heute jedoch haben wir sie verärgert, sie rennen uns kläffend hinterher. Wir sind, weil spätnachts so wenige Autos fahren, nicht über den Zebrastreifen gegangen. Das nächste Mal, wenn ich alleine nach Hause gehe, lerne ich, dass die Hunde nicht nur ausgezeichnete Politessen, sondern auch einen wunderbaren Begleitschutz abgeben. Das Rudel sammelt sich um mich, und als mir auf der gegenüberliegenden Straßenseite jemand entgegenkommt, kläffen sie mit ihm. Schließlich sind es die Frauen in der Stadt, die die Streuner am öftesten mit Küchenresten füttern. «Auch unter den Menschen gibt es genug arme Hunde», sagt Chum.

Territorium des Mondes.

2014 habe ich Odessa verlassen, nachdem das Gewerkschaftshaus ausgebrannt war. Beinahe hätte ich geglaubt, dass sich nach dem Maidan in Kiew etwas geändert haben könnte, als die Menschen gegen das Regime dort campierten und die Demonstrant_innen Käsebrötchen an die Berkut-Männer austeilten, und schließlich sich das ganze Land entzündete. Und doch erzählt man sich in Odessa immer noch Witze: «Sagt ein Odessit zum anderen: ‹Schmil, ich werde nicht mehr russisch reden.› ‹Warum denn, Izaac, hast du Angst, dass die Ukrainer dich erschlagen?› ‹Nein, aber dass die Russen mich retten kommen.›» Bei der Demonstration, um das odessitische «Wandhaus» – ein Gebäude, das von einem bestimmten Punkt aussieht, als wäre es nur Fassade – zu erhalten, waren doppelt so viele Menschen wie auf jeder beliebigen pro-ukrainischen oder pro-russischen Demo. Odessa ist immer noch Territorium des Mondes, sagt Chum und zieht seine Mütze vor Puschkin.