Öffentliche Erscheinungen in FavoritenArtistin

Dem guten alten Zehnten mit seiner Favoritenstraße wird ein neues Grätzl aufgebrummt: das Sonnwendviertel. Welche Wünsche und Ängste haben die neuen und die alten Bewohner_innen? Ein Kunstkollektiv hat vor Ort nachgefragt, Julia Grillmayer (Text) und Michael Bigus (Fotos) waren dabei.

Es ist ein unglaublich heißer Augustsonntag, an dem das Department für öffentliche Erscheinungen im Helmut-Zilk-Park im zehnten Wiener Bezirk seine Tische aufstellt. Weiter hinten, Richtung Gudrunstraße, sind große Wiesenflächen, auf denen sich vereinzelt Menschen in Bademode bräunen, aber hier, an der Ecke Alfred-Adler-Straße gleich hinter dem Hauptbahnhof, ist weißer Schotter gelegt, und regelmäßig, je nach Sonnenverlauf, müssen die Tische in den Schatten der noch kleinen Bäume gerückt werden. «Die müssen auch noch wachsen», sagen die Künstler_innen. Der Park wurde erst vor zwei Jahren fertiggestellt. Er liegt mitten im Sonnwendviertel, im ehemaligen Gebiet des Südbahnhofes, in dem in den letzten Jahren sehr schnell sehr viele Wohnhäuser gebaut wurden.

Was haben die, was ich nicht hab?

Peter Boer­boom, Gabriele Obermaier und Carola Vogt, seit 1995 als das Künstler_innenkollektiv Department für öffentliche Erscheinungen aktiv, sind hier, um eine Befragung durchzuführen. Auf den Tischen haben sie «Meinungsträger» aufgelegt, rosa und blaue Streifen aus Kunststoff-Vlies. Zwei Fragen werden den vorbeikommenden Passant_innen in Favoriten gestellt: «Was haben die anderen, was ich nicht habe?», soll auf den blauen, «Was habe ich, was die anderen nicht haben?», auf den rosaroten Streifen beantwortet werden. Die schon ausgefüllten Meinungsträger hängen wie Fahnen an einer Stange und wehen im Wind. Sie werden Teil einer Skulptur, die bei Fokus Favoriten zu sehen sein wird, einer Ausstellung von Kunst im öffentlichen Raum (KÖR) in Wien, die am 20. September am Sonnwendplatz eröffnet.
«Ich könnte so viel schreiben …», sagt ein Mädchen über einen rosa Meinungsträger gebeugt. Die Einladung, darüber nachzudenken, was man hat, ruft bei den meisten Befragten Dankbarkeit hervor, und sie antworten eher allgemein: «Süße Enkelkinder», «Gesundheit», «Job, Lebenslust, Tiere» und «Zeit für mich» sind auf rosa Untergrund zu lesen. Andere wollen die genauen Hintergründe des Kunstprojektes wissen und beziehen ihre Antworten dann speziell auf ihre Wohnsituationen. «Das war meine erste Eingabe», sagt ein junger Mann, der gerade «Eine U-Bahn-Station vor der Haustür» auf einen blauen Streifen geschrieben hat. Sonst ist auf Blau zu lesen: «Viele Cafés und Imbisse», «Kleine Geschäfte», «Größere Wohnung». In Rosa steht dem gegenüber: «Hausgemeinschaft» und «Blick auf die Züge».

Heute hier, morgen fort.

Das Department für öffentliche Erscheinungen arbeitet mit Publikumsbefragungen, die an den jeweiligen Ort angepasst sind. «Der öffentliche Raum war immer unsere Bühne», sagt Vogt. Zum Beispiel in den Projekten mit dem Übertitel Farbe bekennen stimmten die Befragten mittels vorgefertigter Meinungsträger in unterschiedlichen Farben ab. Die Bewohner_innen eines Wohnblocks in Berlin Wedding wurden gefragt: «Wie sehen Sie Ihre Zukunft?» Sie hingen Fahnen mit «Gute Aussichten» in Blau, «Mal sehen» in Gelb oder «Aussichtslos» in Violett an ihre Balkone. «Heute hier, morgen fort», «Nein danke», «Ja, aber …», «Alles wird gut», das waren die Slogans, die den Haushalten der Messestadt Riem in München zur Verfügung standen. In Linz wurden Leute im Rahmen einer mehrwöchigen Kunstaktion nach ihrem Optimismus oder Pessimismus gefragt und hängten entweder «Früher war’s besser», «Leben im jetzt» oder «Hoffen auf morgen» in ihre Fenster. Die Einbeziehung des Publikums sei für die künstlerische Arbeit des Departments immer spannender geworden und die Fragestellungen hätten sich immer weiter ausdifferenziert. «Uns haben zunehmend auch die Gründe zu den Antworten interessiert.»

Das alte und das neue Favoriten.

In Favoriten, mit mehr als 204.000 Bewohner_innen der bevölkerungsstärkste Bezirk in Wien, interessiert das Department der Kontrast zwischen dem neu aus dem Boden geschossenen Sonnwendviertel und dem alten Favoriten.
Geht man von dieser Ecke des Helmut-Zilk-Parks los, sieht man links das Heeresgeschichtliche Museum hinter den nigelnagelneuen Wohnprojekten hervorblicken. Hier werden insgesamt 5.500 Wohnungen für circa 13.000 Menschen neu errichtet. Noch fühlt es sich an, als würde man durch ein Modell spazieren. Biegt man rechts ab, überquert man mit der Sonnwendgasse eine spürbare Grenze und kommt ins alte Viertel, das großteils durch Gründerzeithäuser und die riesige Einkaufs-Fußgänger_innenzone in der Favoritenstraße geprägt ist. Das Department will diesen Kontrast auch in ihrer Installation bei Fokus Favoriten abbilden. Die drei Künstler_innen werden eine zweite Befragung am Columbusplatz machen, wobei die Rückseite der schon beschrifteten Meinungsträger, die ein anderes Rosa und Blau haben, beschrieben werden. So sollen die Antworten der Passant_innen des neuen Viertels mit jenen des alten Viertels in Dialog treten.
«Wahnsinn, was hier alles hochgezogen wird», sagt Vogt sich umschauend. Seitdem das Kollektiv das letzte Mal im Helmut-Zilk-Park zur Recherche war, hat sich das Gebiet schon wieder verändert. «Man bemerkt, dass hier Aufbruchstimmung herrscht. Wir haben Leute befragt, die gerade erst ein Jahr oder sogar erst zwei Wochen hier leben.» Wenn man solche grundlegenden Fragen stelle, dann merke man, wie die Leute einen Moment in sich gehen, denn die Antworten seien einfach noch nicht klar. «Das alte Viertel wiederum ist gewachsen und hat sich langsam einpendeln können», sagt Boerboom. Hier seien Veränderungen eventuell eher mit Ängsten vor Gentrifizierung und damit verknüpfter Teuerung verbunden.
An diesem heißen Nachmittag kommen nicht allzu viele Menschen hier im Sonnwendviertel vorbei, aber fast ausnahmslos lassen sie sich überzeugen, einen Meinungsträger zu beschriften. Das liegt nicht zuletzt an der Unterstützung von Melis Karabulut und Hatice Ablak, die, über KÖR vermittelt, dem Department mit dem Sammeln der Stimmen helfen. Die jungen Frauen sprechen auch Türkisch, was einigen Passant_innen das Abgeben ihrer Meinung ermöglicht oder vereinfacht, und sie haben Bezug zum zehnten Bezirk. «Wir haben beide die Bautechnische Schule hier in der Nähe besucht. Und ich wohne auch in Favoriten», sagt Ablak.

Sichtbares Nachdenken.

«Das Nachdenken im öffentlichen Raum, das ist das Zentrale», sagt Vogt. «Man macht sich dadurch anders sichtbar», meint auch Obermaier. Man erkenne, dass man in diesem Raum nicht einfach nur anwesend ist, sondern immer auch eine öffentliche Erscheinung. «Am Schluss sind die Leute, trotz anfänglicher Skepsis, meist glücklich, dass sie nach ihrer Meinung gefragt werden», bestätigt Vogt. Die Frage danach, was andere haben, sei natürlich immer eine Projektion und gehe mit der weiteren Frage einher, wen man denn als «die anderen» definiert. Die Frage nach dem eigenen Haben wiederum sei eine Introspektion, eine Einladung, in sich hineinzuhorchen.
Was das Department die Öffentlichkeit fragt, wird für jeden Ort spezifisch entwickelt. In welcher Weise die Fragen gestellt und welche Bilder damit erschaffen werden, das mache die künstlerische Arbeit aus. Damit Menschen mitmachen, müsse man sie einladen und diese Einladung auch choreographieren. In der Arbeit easyVote entwickelte das Kollektiv ein Abstimmungsverfahren im öffentlichen Raum, wobei Passant_innen unter einem Banner oder durch Türen gingen, die mit verschiedenen Antwortmöglichkeiten versehen waren; etwa «Nein / Egal / Ja» auf die Frage nach der Relevanz von Mitbestimmung. «Das ist ganz wichtig», sagt Obermaier, «die Einsicht, dass Kommunikation auch ästhetisch ist, dass sie eine gewisse Schönheit hat.»
Neben den Bäumchen steht an diesem Eck des Helmut-Zilk-Parks auch eine sehr viel effektivere Schattenspenderin, nämlich die Skulptur ­B-Girls, Go, die die Künstlerin Maruša Sagadin im Rahmen von KÖR entwickelt hat; eine riesige, rosarote Baseballkappe aus Holz. Seit 15 Jahren bringt KÖR permanente sowie temporäre künstlerische Projekte in den öffentlichen Raum, mit dem Ziel diesen «als Agora – als Ort der gesellschaftspolitischen und kulturellen Debatte – zu beleben». Bei Fokus Favoriten werden neben der Arbeit des Departments für öffentliche Erscheinungen auch eine Lichtinstallation von Alicia Martin Framis, eine Skulptur von Atelier Van Lieshout, die Aufführung von neukomponierten Arbeiter_innenliedern von Ines Doujak, eine Installation aus Foto-Stories von Britta Thie und eine Performance von Julia Bünnagel zu sehen sein.■

Fokus Favoriten: Eröffnung am 20. September, 17 Uhr
10., Sonnwendplatz / Favoritenstraße 76

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