In der Sozialpolitik hinterlässt die abgetretene Regierung deutliche Spuren. Was wehtut, was noch verhindert werden kann und was als Nächstes kommt, hat Markus Griesser die Sozialexpertin Martina Kargl gefragt. Foto: Carolina Frank
Anfang Mai 2019 wurde das umstrittene Sozialhilfe- Grundsatzgesetz infolge der Billigung durch den Bundesrat endgültig auf den Weg gebracht. Was sind die nächsten Schritte?
Martina Kargl: Die Mindestsicherung gehört zum sogenannten «Armenwesen», das laut österreichischer Bundesverfassung zu jenen Politikbereichen zählt, in denen es eine geteilte Zuständigkeit zwischen dem Bund und den Ländern gibt. Konkret sieht das so aus, dass der Bund die Kompetenz zur Grundsatzgesetzgebung hat und die Länder jene zur Ausführungsgesetzgebung. Das heißt, der Bund kann – wie der Name schon sagt – Grundsätze festlegen, und die Länder müssen diese dann umsetzen. Gleichzeitig müssen die Länder die Möglichkeit haben, im jeweiligen Themenfeld auch noch selbstständig etwas zu regeln. An diesem Punkt sind wir nun. Das Grundsatzgesetz ist beschlossen und mit 1. Juni in Kraft getreten, und die Länder müssen in einem nächsten Schritt ihre Ausführungsgesetze erlassen.
Wien hat in Bezug auf den Gesetzesentwurf frühzeitig Bedenken angemeldet. Welchen gestalterischen Spielraum haben die Länder?
Also grundsätzlich sind die Bundesländer verpflichtet, diese Dinge umzusetzen. Wenn es aber eine verfassungswidrige Bestimmung ist, die der Bund da festgelegt hat, dann müssen sie das nicht. So verstehe ich die Vertreter_innen der Stadt Wien, die gemeint haben, dass das Grundsatzgesetz in der Bundeshauptstadt in dieser Form nicht umgesetzt wird. Das heißt, die Stadt Wien ist bei vielen Punkten zu dem Schluss gekommen, dass es sich um verfassungs- oder auch EU Rechts-widrige Bestimmungen handelt. Wobei man unterscheiden muss zwischen dem Begutachtungsentwurf
und der tatsächlich beschlossenen Gesetzesfassung. Für sehr große Empörung sorgte etwa der Umstand, dass laut Begutachtungsentwurf Personen, die zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt wurden, keinen Anspruch haben sollten. Das hätte bedingt Entlassene betroffen. Jetzt heißt es im Gesetz, dass lediglich für den Zeitraum der Strafhaft in einer Anstalt kein Anspruch besteht, was auch bisher so war. Alles in allem wurde in Bezug auf die verfassungsrechtlichen Bedenken, die unter anderem in den Stellungnahmen zum Gesetzesentwurf geäußert wurden, noch einiges geändert und nachgebessert.
Nichtsdestoweniger plant die SPÖ, über den Bundesrat eine sogenannte Drittelbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof (VfGH) einzubringen.
Der Bundesrat hat die Möglichkeit, Bundesgesetze im Rahmen der sogenannten «abstrakten Normenkontrolle» vor den VfGH zu bringen. Dafür reicht ein Drittel der Mitglieder aus. Es ist allerdings noch unklar, welche Teilaspekte vorgelegt werden und mit welchen Argumenten das passieren soll.
In der öffentlichen Debatte gab es zahlreiche Warnungen vor einer Verschärfung der Kinderarmut. Wie schätzen Sie die Neuregelung in Bezug auf die gestaffelten Kinderzuschläge ein?
Grundsätzlich bin ich in Bezug auf diesen Punkt ein bisschen skeptisch, was die Frage der Verfassungswidrigkeit und mithin die Chance anbelangt, dass das fallen könnte. Mir ist aber wichtig, zu betonen, dass es auch immer zu unterscheiden gilt: Was ist verfassungsrechtlich im Rahmen, und was ist sozialpolitisch klug? Man kann diese Regelung aus armutspolitischen Gründen auch dann kritisieren, wenn sie vor dem VfGH halten sollte. Wobei ich es umgekehrt auch ein bisschen problematisch finde, einzelne Leistungen herauszupicken. Ich glaube, man muss es in der Zusammenschau der Teilleistungen sehen: Wie viel bekommen die Eltern, wie viel bekommen die Kinder, was ist möglich an Zusatzleistungen für das Wohnen? Und da sieht man, dass die Reduktionen, die insbesondere in den westlichen Bundesländern bei den jetzigen Leistungen für das Wohnen erfolgen sollen, viel dramatischere Auswirkungen auf das Haushaltseinkommen haben als die Kürzungen der Leistungen für die Kinder. Wenn die Kürzungen bei den Leistungen fürs Wohnen zu einer massiven Minderung des Haushaltseinkommens führen, dann ist das für Kinderarmut aber genauso relevant.
Mit welchen anderen sozialen Auswirkungen der Reform ist zu rechnen?
Was wir in der Armutskonferenz befürchten, ist, dass es für die betroffenen Haushalte noch schwieriger wird, ihre Wohnkosten zu begleichen: Wir haben Deckelungs-Bestimmungen, wir haben Leistungsreduktionen, es gibt massive Einschränkungen, Zusatzleistungen für das Wohnen zu gewähren usw. Das alles wird zur Folge haben, dass die Zahl an Delogierungsverfahren und auch die faktischen Wohnungsverluste zunehmen werden. Das heißt, dass mit der Reform – neben dem enormen individuellen Leid – auch massive soziale Folgekosten verbunden sind. So muss man davon ausgehen, dass es steigende Kosten geben wird im Bereich der Wohnungslosenhilfe, aber auch zum Beispiel im Gesundheitssystem. Es gibt ausreichend Studien, die zeigen, dass die Erhöhung von Existenzdruck psychische Erkrankungen befeuert. Zudem werden die Netze sozialer Organisationen, wo es um Basis-Versorgung geht, massiv gefordert sein: warme Mahlzeiten, vergünstigte Einkaufmöglichkeiten bei Lebensmitteln, aber auch Second-Hand Angebote bei Bekleidung, Möbeln, Hausrat. Die Nachfrage wird nach allem steigen, was helfen kann, Fixkosten zu reduzieren und über die Runden zu kommen.
Die Reform der Mindestsicherung war nur eines von mehreren sozialpolitischen Vorhaben der ÖVP/FPÖ-Regierung. Ein anderes war die De-facto-Abschaffung der Notstandshilfe.
Diese zwei Vorhaben muss man tatsächlich zusammendenken. Das sieht man beispielsweise daran, dass im Sozialhilfe- Grundsatzgesetz die Bestimmungen in Bezug auf die Vermögensverwertung verbessert wurden. Eigenheim Besitzer_innen – am Land wohnen auch viele Einkommensarme im Eigenheim – sollen dem Sozialamt künftig erst nach drei Jahren ein Pfandrecht einräumen müssen. Auch die Grenze für Erspartes, das man behalten darf, wurde etwas erhöht. Hier sehe ich eine klare Verbindung zu den Bezieher_innen insbesondere von Notstandhilfe, wo man gesagt hat: «Okay, wenn wir die Notstandshilfe abschaffen und die Leute deshalb in die Sozialhilfe fallen, dann müssen wir das sozial ein bisschen abfedern.» Das Regierungsprogramm war sehr allgemein gehalten, was dieses Projekt anging. Es ist dann aber eine Präsentationsunterlage des Wirtschaftsforschungsinstituts (WIFO) durchgesickert. Das WIFO war beauftragt, Simulationsberechnungen durchzuführen für einen konkreten Modellvorschlag aus dem Sozialministerium. Es sollte, grob gesagt, berechnet werden, wie es sich auswirken würde, wenn es in der Arbeitslosenversicherung nur noch eine statt wie bisher zwei Leistungen gäbe, die Höhe der Ansprüche mit der Zeit abnehmen und der Bezug von Leistungen für fast alle auf zwei Jahre begrenzt würde. Diese Berechnungen haben sehr drastische Ergebnisse gezeigt: Ungefähr ein Drittel aller Bezieher_innen wäre aus der Arbeitslosenversicherung herausfallen. Davon betroffen wären ganz besonders Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen bzw. Behinderungen gewesen sowie Personen, die nur einen Pflichtschulabschluss als höchste formelle Ausbildung vorweisen können. Diese Ergebnisse haben in der Öffentlichkeit dann auch viel Empörung hervorgerufen. Bereits die Regierung Schüssel II hatte 2003 die Abschaffung der Notstandshilfe in ihrem Regierungsprogramm verankert, aber nicht umgesetzt.
Jetzt ist die Regierung Kurz erneut daran gescheitert. Ist die Sache damit vorerst vom Tisch?
Das ist jetzt natürlich ein bisschen Kaffeesudlesen, weil wir ja nicht wissen, wie die nächste Bundesregierung aussehen wird. Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass ihr die ÖVP angehören wird. Und ich sehe nicht, weshalb die ÖVP von diesem
politischen Projekt abrücken sollte. Insofern könnte ich mir gut vorstellen, dass sich dieses Vorhaben auch im nächsten Regierungsprogramm wiederfinden wird. Ob es 1:1 so weiterverfolgt werden soll, wie im Rahmen der WIFO-Simulation geplant, steht auf einem anderen Blatt.
Welche Handlungsperspektiven seht ihr in der Armutskonferenz?
Meines Erachtens ist es wichtig, bei der Erzählung über den Sozialstaat deutlich zu machen, dass dieser ein Stück öffentlicher Reichtum ist, der schwer erkämpft wurde und dazu geführt hat, dass ein Niveau an Gleichheit und Wohlergehen erreicht wurde, das wir in der Geschichte zuvor nie kannten. Deshalb gibt es auch etwas, das sich zu verteidigen lohnt, das wir uns nicht wegnehmen lassen dürfen. Ich glaube, es ist sehr wichtig, das immer wieder deutlich zu machen.
Martina Kargl ist bei der Armutskonferenz aktiv.
Markus Griesser schreibt zu sozialpolitischen Themen.