Öl! Weltgeschichte im Wiener Beckenvorstadt

Texas, der Nahe Osten oder aus aktuellem Anlass Russland werden mit Erdöl in Verbindung gebracht. Dabei hat dieser fossile Rohstoff vor den Toren Wiens eine lange und wirtschaftlich bedeutende Tradition. Ein historischer Überblick.

TEXT: BENJAMIN STEININGER

Vom Kahlenberg aus konnte man die Feuersäule mit bloßem Auge sehen. Sechs Monate lang hatte das Öl Tag und Nacht an der Bohrung Matzen 9 gebrannt, und nach Blitzschlag am 1. Mai 1951 hatte sich das Gas noch einmal für mehrere Wochen zu einer 100 Meter hohen Feuersäule entzündet. Als im August der Gaszustrom versiegt, klafft ein ölgefüller Krater in der Landschaft, 130 mal 90 Meter. Erst 1959 wird er verfüllt und kontrolliert abgebrannt. Und der Ausbruch ist kein Einzelfall. Gleich mehrere Krater tun sich auf, als um 1950 das mit geschätzt 190 Millionen Tonnen Lagerstätteninhalt größte Ölfeld Mitteleuropas zwischen den Ortschaften Gänserndorf, Prottes, Matzen und Auersthal erschlossen wird. Regie führt – man ist seit 1945 in der sowjetischen Besatzungszone – die Sowjetische Mineralölverwaltung (SMV). Mit dabei sind aber auch österreichische Geologen und Techniker, wie etwa Karl Friedl, der schon in der Zwischenkriegszeit die Ölfelder im nördlichen Weinviertel, rund um Zistersdorf und Neusiedl an der Zaya, erforscht hatte.
Das Ölfeld Matzen wird mit brutalem Aufwand ausgebaut. Ganze Verbände von Raupenschleppern ziehen Bohrtürme durch Felder und Weingärten. 17 Millionen Tonnen Erdöl werden als eine Art inoffizielle Reparationen Eigentum der Sowjetunion. Zum Teil wird das Öl von den Sowjets in Österreich weiterverkauft. 10 Millionen Tonnen fahren aber in Kesselwagen und Tankschiffen nach Osten. Lange bevor seit Ende der 1960er-Jahre auf umgekehrtem Weg sibirisches Gas in Pipelines und als Devisenbringer nach Österreich strömt.

Lokaler Bezug zum globalen Rohstoff.

Erdöl vor den Toren Wiens? Als strategischer Rohstoff? Die Geschichte von Öl und Gas im Wiener Becken ist erstaunlich unbekannt. Im Weinviertel selbst gibt es kaum eine Familie, die in den letzten Jahrzehnten keine Verbindung zum Öl hatte, es gibt kaum einen Verein und kein Schwimmbad im Bezirk Gänserndorf, an dem die OMV als wichtigster Arbeitgeber der Region nicht beteiligt gewesen wäre. Aber schon in Wien sind Kenntnisse über den lokalen Bezug zum globalen Rohstoff selten. Dabei ist es gerade diese und durchaus einzigartige Mischung aus welthistorisch abstrakten und lokal konkreten Aspekten, an denen einerseits die Zeitgeschichte lernen kann, mehr aber noch die Gegenwartsdiagnose zur Rolle der fossilen Energieträger für die Epoche der Moderne in ihren Höhenflügen und Abgründen.
Erstaunlich viele Marksteine der Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert lassen sich im Spiegel des Öls neu und anders erzählen. Umgekehrt zeigen sich an einem unbestreitbar wichtigen und viel diskutierten Rohstoff überraschende und neue Seiten, wenn man die geostrategisch, ökologisch, technisch und popkulturell so wichtige Substanz nicht nur an Orten in Texas oder im Nahen Osten festmacht, sondern wenn man dem Öl in Ortschaften wie Zistersdorf oder Matzen nachspürt.

In der heutigen Ukraine.

Die Geschichte des österreichischen Öls beginnt im 19. Jahrhundert weit außerhalb der heutigen Landesgrenzen, am heute ukrainischen, damals zum Habsburgerreich gehörenden Nordhang der Karpaten, in Ortschaften wie Boryslaw und Drohobytsch. Noch vor dem Ölboom im US-amerikanischen Titusville wurde hier Öl gefördert. Und es war der ebenfalls österreichische, im nahen Lemberg/Lviv ansässige Apotheker Ignacy Łukasiewicz, mit dessen Erfindung der Petroleumlampe 1853 der erste Massenmarkt für Erdöl entsteht. Als «Speisekammer der deutschen U-Boote» wird das Erdölrevier von Boryslaw im Ersten Weltkrieg bezeichnet. Als Truppen des zaristischen Russlands 1915 kurzfristig die Ölfelder erobern, wird auch zum ersten Mal und ohne Erfolg im Wiener Becken gebohrt. Anzeichen für Erdöl hatte 1913 die Explosion einer vom slowakischen Bauern Jan Medlen selbstgebastelten Gasheizung in Egbell/Gbely an der March gegeben.
Nach dem verlorenen Krieg wird die Erforschung des Wiener Beckens vorangetrieben. Was oberirdisch als Durchbruch der Donau durch den Alpen-Karpaten-Bogen erscheint, wird unterirdisch und geologisch als mehrere tausend Meter tiefe Bruchsituation erkennbar. Und gerade hier, an den Bruchkanten des Steinbergbruchs bei Zistersdorf werden zahlreiche, in sogenannten «Horizonten» übereinander liegende Erdöllagerstätten erschlossen.
Zu einer wirtschaftlichen Förderung kommt es in den 1930er-Jahren. Heute vergessene Unternehmen wie Raky-Danubia, Fanto AG, Steinberg-Naphta-GesmbH, Eurogasco, aber auch internationale Konzerne werden rund um Zistersdorf aktiv. Als Gründung der Socony Vaccum Oil Company (heute Exxon Mobil) und der N.V. de Bataafsche Petroleum Maatschappij (heute Royal Dutch Shell) entsteht 1935 die Rohöl-Aufsuchungsgesellschaft (RAG). Bis vor kurzem war das in Wien ansässige Unternehmen noch im Weinviertel aktiv, Kerngeschäft sind jetzt große Gasspeicher.
Zu einem massiven Ausbau der Förderung kommt es aber erst im Zeichen der Kriegs­wirtschaft nach dem «Anschluss» Österreichs an das Deutsche Reich 1938. NS-deutsche Firmen drängen auf den Markt. Und während des Zweiten Weltkriegs ist die Region die wichtigste Ölquelle auf dem Gebiet Großdeutschlands, mit einem Anteil von knapp zwei Dritteln an der Gesamtproduktion.
Spektakulär ist die Geschichte des Erdölpioniers Richard Keith van Sickle. Der Spross einer kanadischen und weltweit aktiven Ölfamilie war 1935 ins Weinviertel gekommen. Unter dem Druck deutscher Stellen hatte er bald wieder Lizenzen abgeben müssen. Als Lohnbohrung in Diensten der NS-deutschen DPAG erbohrt der Fachmann bei St. Ulrich dann die größte Lagerstätte Großdeutschlands, feierlich eingeweiht am 25. 9. 1938 in Anwesenheit des Reichsstatthalters Seyß-Inquart. Van Sickles eigenes Unternehmen wird mit Kriegsbeginn in Vertretung weitergeführt, er selbst geht als Major der British Army nach Nordafrika, später als Öl-Attaché nach Bagdad und Teheran, im Kampf gegen die unter anderem auch mit «seinem» Öl befeuerte NS-Kriegsmaschine. 1945 kehrt er nach Wien zurück, um als einziger privater Ölmann der Vorkriegszeit ein vom Raubbau der Kriegsjahre geschwächtes Unternehmen weiterzuführen.

Sowjetische Mineralölverwaltung.

Das Weinviertel liegt ab 1945 in der sowjetischen Besatzungszone und alle von NS-deutschen Unternehmen bewirtschafteten Ölfelder fallen an die eigens eingerichtete Sowjetische Mineralölverwaltung (SMV). Neben Geschichten von Raubbau, Misswirtschaft und politischer Indoktrination berichten Zeitzeug_innen auch von technischen Innovationen. So war das Wiener Becken bei einer Entlastungsbohrung beim 1952 havarierten Gasfeld bei Zwerndorf auch erster «westlicher» Schauplatz des in der Sowjetunion bereits erprobten Verfahrens der Richtbohrung. Von sowjetischen Ingenieuren lernten Österreicher_innen, wie nicht nur senkrecht, sondern auch quer gebohrt werden kann.
Als explizit neutrales Unternehmen wird 1956 nach dem Abzug der Sowjets die Österreichische Mineralölverwaltung (ÖMV) gegründet. Vorstandsdirektorin wird die 1955 aus dem sowjetischen Gulag entlassene Margarethe Ottilinger – «der einzige Mann bei der ÖMV ist eine Frau», heißt es bald. Ähnlich wie bei der verfassungsmäßigen militärischen Neutralität Österreichs gilt für die Erdölförderung, dass weder westliche noch östliche ausländische Konzerne hier tätig sein dürfen. Das Ergebnis ist ein staatlich kontrolliertes, in den Staatshaushalt wirtschaftendes Unternehmen. Eine Art Mini-Opec der erdölexportierenden Dörfer verteilt nach einem Schlüssel ihre Steuereinnahmen untereinander. Und als Ende der 1960er-Jahre erstmals sowjetisches Erdgas per Pipeline in den Westen strömt, entsteht die Übergabestation an der March, im neutralen Österreich.

Gift für die OMV.

Um 1980 wird das Weinviertel Schauplatz bedeutender, wissenschaftlich technischer Rekorde. Während des Allzeithochs des Ölpreises anlässlich der Iranischen Revolution 1979 scheinen auch kostspieligste Bohrungen rentabel. Ziel sind vermutete Lagerstätten weit unterhalb der bis dahin erschlossenen Tiefen. Bei einer Bohrung bis auf 7.544 Meter kommt es 1980 zum Gasausbruch. Mehrere Millionen Kubikmeter Gas werden abgebrannt, bis das Bohrloch nach wenigen Tagen einstürzt. Eine weitere Bohrung auf 8.553 Meter Tiefe bleibt ohne Erfolg. Umgerechnet 100 Millionen Euro pro Bohrung sind abzuschreiben. Erst Jahrzehnte später wird der Ausbruch unter der Vokabel «Schiefergas» neu gedeutet. Als «unkonventionelle La­gerstätten» werden – aus­gehend von den USA und mit Folgen für den ganzen Weltmarkt – auch bisher übersehene Gesteinsschichten mit hohem hydraulischem Druck «gefrackt», also aufgebrochen. Um 2010 werden entsprechende Probebohrungen im Weinviertel angesetzt. Große Gaslagerstätten aus «Muttergesteinen» könnten den Erdgasbedarf Österreichs für 30 Jahren decken, so die Vermutung. Aber das Projekt scheitert spektakulär. Ein Konzern, der selbst im Weinviertel groß geworden war, der in zahlreichen Gemeinden und in zahllosen Familien noch immer hohes Ansehen genießt, schätzt nach Jahren der Internationalisierung und nach Generationswechseln im Management die Stimmung vor Ort falsch ein. Die Horrorvokabel vom «Fracking» erweist sich als Gift für das Unternehmen, eine Sachdiskussion zur technischen Beherrschbarkeit von ökologischen Risiken für das Grundwasser unterbleibt. Und die OMV wendete sich vermeintlich besseren Investitionen und Großprojekten zu – etwa im Gasfeld Urengoi in Westsibirien. Aber in welch atemberaubendem Tempo sich die Bedingungen für alle Überlegungen im Spannungsfeld aus Energie und Politik verschieben, hätten noch vor wenigen Wochen Ökonom_innen und Politiker_innen kaum vorausgesagt. Die Großprojekte der OMV in Sibirien sind jedenfalls an der Weltlage krachend und milliardenschwer zerschellt.

Öl für die DDR.

Das Wiener Becken bietet ein sehr spezielles Schaufenster in die weite Welt der Erdölmoderne. Es zeigt die brutalen Seiten der Epoche, ebenso wie gelungenes staatliches Handeln. An einer geografischen Schnittstelle zwischen Ost- und Westeuropa begegnen sich regelrecht Extreme der politischen und technischen Systeme der Petromoderne des 20. Jahrhunderts. Die Kriegsmaschine des Nationalsozialismus ist mit dem Weinviertel ebenso verknüpft wie die sowjetische Sphäre der Nachkriegsjahre. Ganze Raffineriestrukturen in der DDR waren etwa auf das Öl aus Österreich abgestimmt. In der Zweiten Republik ist die verstaatlichte Erdölindustrie zentraler Bestandteil der Politik und Wirtschaft. Sehr im Gegensatz zu vielen anderen Ölförderländern profitieren hier starke staatliche Strukturen durchaus von der Ressource. Und in den Ortschaften des Weinviertels gehen für einige Jahrzehnte die neue Kultur der Ölarbeiter_innen und die althergebrachten Bräuche des katholischen Landlebens Hand in Hand.

Postfossile Zukunft.

Wie lange sich die Pumpen im Weinviertel noch zwischen Weinreben und Obstbäumen heben und senken, ist unklar. Weder nostalgisch noch panisch, sondern nüchtern die Schauplätze der Erdölmoderne zu deuten, ist heute wichtiger denn je. Dass das Zeitalter der fossilen Energieträger zu Ende gehen muss, ist klar. Aber um den Weg in eine postfossile Zukunft zu gestalten, müssen die historischen Erfahrungen mit Öl, Kohle und Gas verstanden werden. Man muss wissen, wovon man sich lösen muss, aber auch, welche politischen und individuellen Freiheiten, welche Kultur- und Wissensbestände die fossilen Rohstoffe ermöglicht haben, und wie man diese Errungenschaften postfossil weiterführt. Erst im Blick auf Ölförder-, Raffinerie- und Verbrauchsländer, auf Gewinner_innen und Verlierer_innen, Eroberte und Eroberer_innen, wird ein Bild der Epoche und damit ein Einblick in die Bedingungen ihrer Weiterentwicklung möglich. Dass im Wiener Becken derart viele Schichten an Erfahrung mit der Petromoderne übereinander liegen, könnte eine wertvolle Ressource für deren Weiterentwicklung sein. 

Alexander Klose & Benjamin Steininger:
Erdöl. Ein Atlas der Petromoderne (Matthes & Seitz 2020)
http://beauty-of-oil.org

Die Doku Petro-Melancholie. Das Erdölzeitalter im Spiegel der Kunst (Regie: M. Frick) läuft am 11. Mai auf Arte.

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