Herr Groll auf Reisen. Folge 284
Der Dozent traf Groll bei einer British-Petrol-Tankstelle an der äußeren Brünner Straße. Sie saßen auf einer Stufe und erfreuten sich am regen Kundenverkehr.
Bild: (c) Mario Lang
Bildtext: If a clod be washed away, Europe ist the less – John Donne (Aus: Meditation XVII. In: Devotions Upon Emergent Occasions, and Severall Steps in my Sickness)
«Das ist also Ihr neuer Nahversorger», sagte der Dozent und nahm einen Schluck von einem Elektrolyt-Getränk.
«Nach der Schließung des Billa in meinem Grätzl hole ich hier das Nötige für den Tag, außerdem beziehe ich Luft für die Rollstuhlreifen und fahre einmal im Monat durch die Waschstraße zur Lackreinigung und Seelenmassage», sagte Groll und nahm einen tiefen Schluck von seiner Bierflasche.
«Und manchmal, wenn die Nächte nicht zum Schlafen taugen, vergönne ich mir hier eine Leberkässemmel und denke an meinen Freund, den Leberkas-Pepi aus Linz», fuhr Groll fort. «Er bietet ungewöhnliche Varianten feil; mit gebackenen Zucchiniblüten, wie sie in Rom auf den Tisch kommen, mit Spinat versetzten Leberkäse nach Lissabonner Art oder Leberkäse à la Hortobágy aus der großen ungarischen Tiefebene. Und ich bewundere das Händchen des Leberkas-Pepi für den Welthandel, denn der Linzer Gastronom eröffnete 2008 einen Leberkäse-Shop nahe dem Hyde Park in London, seit August 2015 gibt es auch einen in der Operngasse zu Wien. London und Wien, nicht erst seit Prinz Eugen und dem Earl of Marlborough, Joseph Haydns Triumphen an der Themse und Toni Fritschs Wembley-Tor, als Österreich im Jahr 1965 das Team der Briten besiegte.»
Er erinnere sich, sagte der Dozent. «Ein Hammer, Entfernung vierzig Meter, aus vollem Lauf, der legendäre englische Tormann Gordon Banks flog mitsamt dem Ball ins Netz.»
«Gordon Banks hat sogar einmal einen Hund mit einer Parade gefangen», setzte Groll fort. «In einem Spiel von Leicester City.»
«Jenes Team, das heuer britischer Meister geworden ist?», fragte der Dozent.
Groll nickte mit dem Kopf. «Mit Christian Fuchs, dem Kapitän der österreichischen Nationalmannschaft auf der linken Außenbahn.»
«Ach, die Nationalmannschaft. Besser, man schweigt darüber für die nächsten Jahrzehnte.»
«Warum? Grillparzer hätte den Spielern ein Poem gewidmet. ‹Das ist der Fluch von unserm edlen Team / Auf halben Wegen und zu halber Tat / Mit halben Mitteln zauderhaft zu streben.› Nichts beschriebe den blamablen Auftritt besser.»
«Grillparzer wäre kein Freund des modernen Fußballs gewesen», warf der Dozent ein. Er sei sich dessen nicht so sicher, erwiderte Groll. Immerhin habe Grillparzer auf seiner Donaureise des Jahres 1843 den Erzählungen eines englischen Reisenden mit großer Neugier gelauscht.
«Wovon sprach der Engländer?»
«Von der Kettenbrücke in Budapest, die damals gerade in Bau war. Errichtet von den Herren Clark & Clark, natürlich Engländern. Damals gab es nur in England Qualitätsstahl.»
«Natürlich.»
«Und er sprach von einem neuen Sport, der sich seit 1841 an Colleges ausbreitete, er sprach vom modernen Fußball. Was heißt sprach? Er schwärmte geradezu. Fußball erfordere Geschick, Mut und Härte.»
«Mit einem Wort: britische Tugenden.»
«Er erwähnte aber auch, dass es damals noch keine einheitlichen Regeln gab», setzte der Dozent fort. «Deshalb konnten die Colleges nicht gegeneinander spielen.»
«Jetzt erst verstehe ich, was Grillparzer am Fußball interessierte!», rief Groll. «In der Monarchie war es zu seinen Lebzeiten ähnlich: keine einheitlichen Regeln, dafür Sumperertum, Feigheit vor dem Tor und weiche Knie. Mit einem Wort: mit halben Mitteln zu halben Zielen mit halben Taten zauderhaft zu streben. Inzucht in kleinen Einheiten, die sich dem Fremden gegenüber abschotten. Eine Schande.»
«Nationalisten auf dem Weg zu niederen Instinkten und bestialischen Zielen sehen das anders. Sie wollen unter sich sein, um leichter auf Sündenböcke eindreschen zu können. Und die Volksgemeinschaft ist begeistert. Deswegen sind die Nationalisten so erfolgreich.»
«Deswegen fechten sie alle Wahlen an, die sie nicht in Front sehen.»
Der Dozent nahm eine Eintragung in sein Notizbüchlein vor. «Wie geht es Ihrem Freund jetzt in London?»
«Er hat zugesperrt, schon nach einem Jahr. Zu wenig Interesse an europäischem Fleisch.»
«Der Austritt überrascht Sie also nicht.»
Groll schüttelt den Kopf. «Ich habe darauf gewettet. Zwanzig Pfund bei William Hill, dem englischen Wettbüro. Der Gewinn wird demnächst überwiesen. Ich rechne mit dem Abzug von 10 Euro Austrittssteuer, aber das restliche Geld können wir heute noch durchbringen.»
«Was für ein glücklicher Tag», sagte der Dozent. Groll reichte ihm seine Flasche, der Dozent nahm einen Schluck vom Bier.