Österreichs vergessene Kolonievorstadt

Das österreichisch-ungarische Konsulat (Bildmitte) und die Metallbrücke sind heute beliebte touristische Attraktionen (Foto: Weina Zhao)

Tianjin ist 16 Jahre lang von Österreich-Ungarn besetzt gewesen. Am 14. August 1917 erklärte China den Besatzern (abermals) den Krieg, somit musste die Kolonie zurückgegeben werden und geriet bald in Vergessenheit.

Der Sommer 1900 war von einer langen Hitzewelle geprägt, zwei Jahre schon plagten Dürre und Flutkatastrophen Nordchina, die zu folgenschweren Ernteausfällen ­führten. Die Bevölkerung litt stark darunter und ­immer mehr Geheimbünde fanden Zulauf, die die Schuld an der Misere Chinas in der ausländischen Besatzung sahen. Denn nach den Niederlagen des Kaiserreichs, sowohl im ersten (1839 – 1842) und zweiten Opiumkrieg (1856 – 1860) als auch im ersten Sino-Japanischen Krieg (1894 – 1895) befand sich das Land in einem halbkolonialen Zustand. Die Siegermächte Großbritannien, Deutschland, Russland, Japan, Frankreich stritten sich um den «Kuchen» China. Sie zwangen es zur Öffnung seiner Häfen und zur Unterzeichnung ungleicher Verträge, die ihnen Zollautonomie und Gesetzeshoheit in den besetzten ­Gebieten und Konzessionen garantierte. All das wirkte sich katastrophal auf die chinesische Wirtschaft aus.

Österreich will ein Stück

Österreich-Ungarn hatte lange Zeit weder Interesse noch Möglichkeiten sich an diesem kolonialen Wettlauf zu beteiligen, erst der ambitionierte Außenminister Graf Gołuchowski hielt es für das Ansehen der Monarchie für unentbehrlich, in China Flagge zu zeigen. Gemeinsam mit dem von ihm nach Peking beorderten Gesandten Czikann ­versuchte er in der Bevölkerung Stimmung dafür zu machen. Am 11. März 1899 platzierte er auf der Titelseite der damals wichtigsten Zeitung Österreichs, Neue Freie Presse, einen anonymen Leitartikel, der die Frage auswarf, «ob nicht auch Oesterreich-Ungarn wohl daran thäte, sich seinen Antheil (in China) zu sichern, nachdem alle europäischen Großmächte mit ihrem ­Beispiele ­vorangegangen sind. […], daß wir in der Kunst, zu colonisiren, nicht hinter Anderen zurück geblieben sind, haben wir in Bosnien und der Herzegowina hinreichend gezeigt».
Im selben Jahr entsandte Gołuchowski in geheimer Mission die beiden ­Kriegsschiffe Saida und Kaiserin Elisabeth an die Küste Fujians. Das Gebiet lag allerdings bereits in japanischer Interessenssphäre. Auch der Versuch, durch den Überfall am österreichischen Pater Wilfinger, der in Zhejiang ­tätig war, Zugeständnisse seitens Chinas einzufordern, scheiterte. Diese Praxis, die von den Kolonialmächten seit Jahrzehnten ausgenützt wurde, zeigte in diesem Fall ­keine Wirkung, da Frankreich bereits das alleinige Schutzrecht über alle Christ:innen in China beanspruchte.

Boxeraufstand

Schon seit Jahrzehnten war die Ausbreitung der christlichen Missionare den chinesischen Geheimbünden ein Dorn im Auge. Einer dieser Geheimbünde, der besonders viele arbeitslose, junge Männer mit seiner anti-imperialen Haltung ­anzog, nannte sich Yihequan – Fäuste der Gerechtigkeit und Harmonie. Aufgrund der von ihnen praktizierten Kampfkünste wurden sie von den Missionaren als «Boxer» bezeichnet.
Im Frühjahr 1900 spitzte sich die Lage zu, die Boxerbewegung breitete sich nach Peking aus, unterwegs brannten sie christliche Kirchen nieder und töteten chinesische Christ:innen. Die ausländischen Diplomaten im Gesandtschaftsviertel der Hauptstadt forderten ihre eigenen Soldaten zum Schutz des Viertels an. Am 5. Juni 1900 ­unterbrachen die Boxer jedoch die Zugverbindung zwischen Peking und Tianjin, wo die ausländischen Truppen stationiert ­waren und isolierten somit die Hauptstadt.

Eskalation

Am 11. Juni erschoss der deutsche Gesandte Clemens von Ketteler in ­einem Tobsuchtsanfall einen Jungen, den er verdächtigte, ein Boxer zu sein. Sechs Tage später richteten er und seine Männer ein Blutbad an: Eine Gruppe Boxer, die ihre rituellen Übungen vor der Stadtmauer ausübte, schossen sie von der deutschen Botschaft aus ab «wie Tontauben». Am selben Tag griffen die ausländischen Soldaten, die in Tianjin festsaßen die Taku-Befestigungen an und nahmen den Großteil der Millionen-Stadt ein.
Bis zu diesem Zeitpunkt herrschte am kaiserlichen Hof Chinas Uneinigkeit, ob die Regierungstruppen die Boxer unterstützen sollten, um bei dieser Gelegenheit die ausländischen Besatzer loszuwerden, oder ob man sich besser mit den Kolonialmächten verbünden sollte, um die als abergläubisch geltenden Boxer niederzuschlagen, da sie mit ihrer anti-imperialistischen, Han-nationalistischen Haltung auch die von den Mandschu geführte Qing-Dynastie zwischenzeitlich bedrohten. Als die Kaiserinwitwe Cixi jedoch am 17. Juni ein Ulti­matum darüber erhielt, die vollständige militärische und finanzielle Kontrolle Chinas an die West-Mächte zu übergeben, ­ergriff sie der Kampfgeist und befiehl allen Ausländer:innen im ­Gesandtschaftsviertel unter Geleit der chinesischen ­Armee ­innerhalb von 24 Stunden die Stadt zu verlassen.
Die ausländischen Gesandten befürchteten, dass das friedliche Abzugsangebot eine Falle sei, und beschlossen sich zu verschanzen. Allein der deutsche ­Gesandte Ketteler ging auf eigene Faust los, um sich beim chinesischen Außenministerium zu beschweren. Auf dem Weg dorthin ­löste Ketteler einen weiteren Schusswechsel aus, der diesmal zu seinem eigenen Tod führte – und dem deutschen Kaiser ­Wilhelm II. die Gelegenheit gab, Rachetruppen zu entsenden.

Gemetzel

Am 27. Juli rief Kaiser ­Wilhelm bei der Ausschiffung der ­Truppen die Soldaten zu extremer Grausamkeit auf: «Pardon wird nicht gegeben! ­Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! […] so möge der Name Deutscher in China auf 1000 ­Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, daß es niemals wieder ein Chinese wagt, ­einen Deutschen scheel anzusehen!»
Anfang August trafen die aliierten ausländischen Truppen in Tianjin ein. Das 19.000 Mann starke Heer, darunter 100 ­österreichisch-ungarische Soldaten, ging auf ihrem Weg nach Peking so brutal vor, wie es Kaiser Wilhelm forderte. An die ­Presse geleakte Feldpostbriefe deutscher Soldaten schilderten ein grausames Bild: «Alles, was leicht wegzuschleppen war, ­wurde fortgetragen. Es wurde alles niedergemetzelt, was uns in die Finger kam, dabei wurden weder Weib noch Kind verschont. Gegen Abend brannten wir die ganze Stadt nieder. Ich sah an diesem Tag eher einem Metzger als ­einem deutschen Soldaten ähnlich.»

Der neue Kuchen Tianjin

Nach der Niederschlagung des Boxeraufstands setzten sich die Morde, Vergewaltigungen, Plünderungen fort und der Wettlauf um Konzessionen in Tianjin begann. Am 11. Februar 1901 markierten drei österreichische Vertreter bei Anbruch der Dämmerung die Grenzen eines 0,6 Quadratkilometer großen Gebiets mit Flaggen.
Anders als die anderen Mächte, ­besetzte Österreich-Ungarn ein mit 35.000 chinesischen Einwohner:innen dicht besiedeltes Viertel. Nach der Errichtung ­eines Konsulatsgebäudes bei einer ­eisernen Brücke, entstanden eine Reihe an Wohnhäusern, die aber statt der erhofften österreichischen Firmen wohlhabende Chines:innen anlockten, allen voran Yuan Shikai, Präsident der Republik China (1912 – 1916). Das Interesse für die Kolonie stagnierte im Heimatland, aufgrund seiner geringen Größe sorgte es eher für Belustigung und Kritik.

Weiterführende Literatur:
Michael Falser (2022): Habsburgs going global. The ­Austro-Hungarian Concession in Tientsin/Tianjin in China (1901 – 1917)