Off Broadway in der LeopoldstadtDichter Innenteil

Ein reiches kulturelles Erbe (Foto: Mario Lang)

Herr Groll auf Reisen (398. Folge)

Herr Groll saß mit seinem Freund, dem Dozenten, im Café des Theaters Hamakom am Nestroyplatz. Bei einem Glas Wein warteten sie auf den Beginn eines Theater- und Liederabends, den die kurdische Sängerin Sakina Teyna mit dem Saiteninstrumentalisten Mahan Mararab bestreiten sollte. Eingerichtet wurde die Aufführung von einem Dramaturgen, den der Dozent schon bei anderen Gelegenheiten schätzen gelernt hatte: Karl Baratta. Er arbeitet im Rahmen seiner Gruppe bad luck mit behinderten Künstlern ebenso gern wie mit migrantischen Menschen, scheut aber auch klassische und moderne Stoffe von Prinz Eugen über Marie von Ebner-Eschenbach und Marlene Streeruwitz nicht. Auch brachte er die ersten drei Theaterstücke von Elfriede Jelinek ans Wiener Volkstheater. Sehr fruchtbar ist seine Zusammenarbeit mit der Theatermacherin Anna Maria Krassnig und deren Company Wortwiege. Dies alles erzählte der Dozent Freund Groll, der interessiert zuhörte.
Herr Groll revanchierte sich mit der Geschichte des Theaters. Er habe sich als Einstimmung auf ihren Theaterbesuch kundig gemacht und sei auf interessante Verbindungen gestoßen, in welchen die Namen Oskar Marmorek, Maxim Gorki, Frank Wedekind, Karl Kraus sowie eine Familie von Mühlen­industriellen herausragen.
Er bitte um nähere Ausführungen, sagte der Dozent und bestellte ein weiteres Glas Rotwein. Herr Groll erzählte:
«Im Jahr 1898 wurde der Nestroyhof im Herzen der Leopoldstadt, die damals ein vitales Zentrum der 200.000 Menschen umfassenden jüdischen Bevölkerung war, nach Plänen von Oskar Marmorek errichtet. Marmorek war ein enger Freund von Theodor Herzl und teilte dessen zionistische Bestrebungen. Sein bekanntestes Bauwerk ist der Rüdiger-Hof in Wien-Margareten. Man kann an Marmoreks Bauten einen starken Einfluss von Otto Wagner erkennen – der darüber durchaus erfreut war. Weitere Bauten – vorwiegend Villen – führte Marmorek am Attersee, in Budapest und Wien aus. Beim Zustandekommen des ersten internationalen Zionistenkongresses in Basel 1897 spielte er neben Herzl eine wichtige Rolle. Herzl nannte Marmorek den «ersten Baumeister der jüdischen Renaissance», auch in Herzls Schlüsselroman Altneuland, der entscheidend für die Palästina-Orientierung der Zionisten war, tritt Marmorek auf.
In der Folge entwickelten sich die ‹Nestroy-Säle› mit Bierhalle und Restaurant im Wintergarten zu einem der bekanntesten Vergnügungsetablissements Wiens. Die im Keller befindliche Tanzbar Sphinx war eine der beliebtesten Nachtbars der Zeit. Die Jugendstilräume wurden für Kinovorführungen genützt, aber auch Theater wurde gespielt. So wurden Stücke von Maxim Gorki und August Strindberg aufgeführt. 1905 brachte Karl Kraus‘ Theatergruppe Trianon Frank Wedekinds Die Büchse der Pandora mit Adele Sandrock, Egon Friedell und Frank Wedekind selbst zur österreichischen Erstaufführung. Auch Karl Kraus stand auf der Bühne.»
Er sei beeindruckt, sagte der Dozent. Die Bedeutung des Nestroyhofs erschließe sich ihm erst jetzt. Wie denn das Haus durch die NS-Zeit gekommen sei?
«Es wurde geschlossen und dann ‹arisiert›», antwortete Groll. «Ein Nazi-Günstling namens Ludwig Polsterer – er entstammte einer Dynastie von Mühlenindustriellen – erhielt das Haus. Nach dem Krieg kam es zu einer schändlichen Restitution, die jüdische Besitzerin Anna Stein erhielt ganze 3.500 Schilling, und das Theater verblieb im Besitz der Polsterers. Sie kamen bald darauf zu einiger Berühmtheit, als mit tatkräftiger Unterstützung der US-Besatzungsmacht, der ÖVP und Raiffeisen der Kurier gegründet und ein Polsterer Herausgeber wurde.»
Der Dozent war empört. «Durch Arisierung reich geworden und dann von den Amerikanern gehätschelt …»
«Lange Jahre wurde das einstige Zentrum jüdischer Kultur zum Supermarkt degradiert, und in den schönsten Theatersaal Wiens wurde eine Zwischendecke eingezogen, so dass das Theater als Lager verwendet wurde», fuhr Groll fort.
«Alle jüdischen Spuren beseitigt!», stieß der Dozent hervor.
«Seit fünfzehn Jahren werden die Räume wieder ihrer Bestimmung gerecht, endlich», sagte Groll.
Das Publikum erhob sich von den Tischen und Sesseln und strebte dem geöffneten Theatersaal zu. Der Dozent nahm noch einen Schluck Wein. Dann folgte er seinem Freund.