Offene Türen bitte nicht eintretentun & lassen

Ein Kommentar zum Ausnahmezustand zwischen Paris und Wien

Die französische Regierung hat auf die Terroranschläge des 13. November in Paris mit der Ausrufung des landesweiten Ausnahmezustands reagiert. Er hat massive Grundrechtseingriffe zur Folge – bis hin zu Haft und Hausdurchsuchungen ohne Beschlüsse durch Richter_innen. Die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner hat den Braten gerochen und will das Instrument des Ausnahmezustands nun auch in Österreich einführen. Robert Sommer über eine Wertedebatte von unten.

Foto: Hands on the Land for Food Sovereignty, Paris 2015

Das alte Jahr hätte mit einer nationalen Debatte über die demokratiepolitischen Konsequenzen dieses Vorstoßes der ÖVP-Politikerin ausschwingen können. Dazu hätte es aber eines konzertierten Aufstands von Menschenrechtsorganisationen bedurft – und eines entschiedenen Njet der sozialistischen Parteispitze zu den Notstandsfantasien des Koalitionspartners. Aber dazu ist die Sozialdemokratie nicht in der Lage. Wenn ein Kommentar dazu gestattet ist: In diese Lage hat sich die SPÖ selbst hineinmanövriert – sie hat die sozialistischen Werte der Gleichheit und Gerechtigkeit durch die Priorität der Sicherheit ersetzt und sieht sich nun gezwungen, der politisch erzeugten und allseits gefühlten Unsicherheit ein «beruhigendes» Gegenmittel gegenüberzustellen: die Aussicht auf einen Staat, der im Notfall Härte gegen alles, was verunsichert, zeigen kann.

Daher hat Bundeskanzler Werner Faymann reagiert, wie er reagiert hat: nicht mit einem «Mit uns ist der Ausnahmezustand nicht zu haben», sondern mit einem Statement, das alles offen lässt: Er sei skeptisch, ob die Einführung eines Ausnahmezustands die sinnvolle Reaktion des Staates sei. Wir werden nicht so bald erfahren, wohin ihn seine Skepsis führt. Ob der (für die breite Diskussion über Notstandsgesetze) verlorenen gegangene Dezember 2015 im Frühling 2016 nachgeholt wird, ist fraglich. Mikl-Leitner, in Sachen Notstand in der Offensive, hat für das Frühjahr eine akademische Debatte über die Voraussetzungen eines österreichischen Ausnahmezustands angekündigt, die von Strafrechtlerin Susanne Reindl-Krauskopf von der Universität Wien moderiert werden soll.

 

Ausnahmezustand besser von unten ausrufen

 

Das Thema ist freilich zu wichtig, als dass man es einer juristischen Expert_innenrunde überlassen könnte. Von solchen elitären Zusammenhängen ist nicht zu erwarten, dass eine Offenheit auch gegenüber der unerhörten Fragestellung herrscht, ob ein Ausnahmezustand nicht von unten, von der Bevölkerung ausgerufen werden müsse.

Die Erfahrungen demokratischer Initiativen mit dem Ausnahmezustand in Frankreich sollten bei uns die Alarmglocken klingen lassen. Der Ehrenpräsident der französischen Menschenrechtsliga Jean-Pierre Dubois, bei weitem kein Revolutionär, hat kürzlich einige dieser Auswirkungen publik gemacht. Der Ausnahmezustand sei ein Repressions-Instrument gegen Aktivist_innen aller Art, nicht nur gegen Terrorist_innen. In Paris wurde ein Rechtsberater der «Coalition Climat 21», der 130 Gewerkschaften, NGOs usw. angehören, zu Hausarrest verdonnert – für die ganze Dauer der Pariser Klimakonferenz. Während die Einkaufszentren geöffnet blieben und mehr Weihnachtsmärkte als je zuvor zum Massenkonsum einluden, sind Versammlungen auf der Straße verboten.

In Paris, erzählte Dubois, fingen 40 Bereitschaftspolizisten in Kampfmontur eine handvoll hippiesker Globalisierungsgegner_innen ab, die, mit Tamburin und Mundharmonika bewehrt, in Richtung Place de la Bastille marschierten. Zwecks Identitätskontrolle mussten die «zotteligen Musikanten» (Dubois) eine halbe Stunde lang mit den Händen im Nacken am Boden kauern. Menschen, die in den Augen von Ordnungshütern «aussehen wie Terroristen», sehen sich vielen Schikanen ausgesetzt. Dubois nannte den Fall des Jazztrompeters Ibrahim Maalouf, der auf einer Konzertreise nach London erst durch Grenzpolizisten, dann durch Zollbeamte verhört wurde. Seit dem Ausnahmezustand finden Razzien gegen Halal-Restaurants und Moscheen statt, bei denen Polizist_innen die Türen eintreten, die nicht verschlossen sind, aber vergessen, die Ausweise der Menschen anzuschauen. Solche Razzien seien für die Polizei harmlos, bequem und medienwirksam, deshalb habe es in den ersten zwei Wochen 2800 Hausdurchsuchungen gegeben, eine Vorliebe der Sicherheitsorgane, die sich so vor effektiveren Maßnahmen drücken können.

 

Der Ausnahmezustand stellt unsere Werte in Frage

 

Solche Erfahrungen können zu nichts anderem als zur Erkenntnis verhelfen, dass das Thema Ausnahmezustand weder den Expert_innen noch den Politiker_innen anheimgestellt werden kann. Mikl-Leitner darf nicht nur mit den Positionen arrivierter, systemkonformer Rechtswissenschaft zur Frage der Sinnhaftigkeit von Notstandsgesetzen konfrontiert werden, falls das im Frühjahr tatsächlich Thema werden sollte. Und man sollte ihr nicht gestatten, sich – mittels Instrumentarien der politischen Repression – als Behüterin der «westlichen Werte» in Szene setzen zu können. Gibt es einen schöneren «westlichen Wert» als das Recht auf Opposition, auf Widerstand, auf Versammlungsfreiheit? Es ist der Ausnahmezustand, der diese Werte in Frage stellt.

Übrigens ist im französischen Parlament die Verlängerung des Ausnahmezustands nahezu einstimmig beschlossen worden. Das heißt, auch mit den Stimmen der meisten Linken. Der große, linke Gewerkschaftsverband CGT hat sich erst unter dem Druck seiner Pariser Basis zu einer Ablehnung des Ausnahmezustands durchringen können. Das zeigt: Das Unsicherheitsgefühl in der Bevölkerung kann so groß sein, dass selbst härteste Notstandsgesetze populär erscheinen könnten. Ein weiterer Grund, die Diskussion nicht den Mikl-Leitners und Faymanns zu überlassen.

 

Infos:

Über den Krieg und die Jugend – Die wilde Kreta: Raub der Sinne

Ich bin eine Tochter Europas, aus einem wilden Land. Mit Kreide male ich Buchstaben an die Wand. Es ist viel härter, als es scheint. Die Kinder wollen in den Kampf, es ist ernst gemeint! Ihre Hilflosigkeit fordert sie auf, sich zu opfern. Für eine große Sache kämpft ihr Staat.

«Nehmt das Wort Krieg nicht in den Mund!», sagt die Mutter, die sie geboren hat. «Sie wissen nicht, was sie tun!», spricht der Vater, der sie nicht beschützen kann. Joel, der Neffe von Xanthippe, der Schwester meiner Tante in Paris, hat sich bei der CIRFA, dem Rekrutierungszentrum der französischen Armee in Vincennes, gemeldet. Er ist 25 Jahre alt. Seit dem 13. November 2015 hat es in seinem Kopf «Boom» gemacht.

Junge Männer und Frauen aus dem «Banlieue» begeben sich in die Klauen jeglicher Armee. Sie ziehen sich für die Freiheit den Tarnanzug an. Sie nehmen die Waffen, just for fun. Sie erkennen nicht den Sinn ihres Lebens. Keine Arbeit hat ihr Leib. Tote Materie von den Schlachtfeldern überträgt sich jeden Abend in ihre Wohnzimmer. Der Sound der Computerspiele und die Drohnen im Kopf rauben Joel seine Sinne. Er reagiert emotional –national. Seine Gefühle spielen verrückt mit seinen Gedanken ohne Verstand. Die «Barbaren» bedrohen die Paläste in seinem Land.

Wenn ich nicht leben darf, sollst du es auch nicht. Das Massaker bezieht seine Stellung.

Helene, die Schwester von Joel, stellt sich ihm in den Weg und fragt ihn: Bist du noch ganz hell? Joel antwortet, dass er für den Frieden kämpfen wolle.

Und du Paris, make love, nicht war, sagt Helene nebenan in der Bar – und ihrem Bruder, der blutet, ihm geht es so so lala.

Susanna Marchand

Der Text bezieht sich auf einen Artikel aus der Tageszeitung «Libération» in Paris Ende 2015 über Jugendliche, die sich in Folge der Anschläge im November in großer Zahl bei der Armee bewerben. 

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