Bibliotick
Marie, Nom de guerre: Viviane, hat Atemnot. Wenn der Lift ausfällt, schafft sie die Stiegen in ihre fensterlose Wohnung nur mit Ach und Krach. Offensichtlich hat die Transplantation der Lunge von ihrer Hälfte nicht so gut geklappt, wie die Superchirurgie versprochen hatte. Manche Menschen haben Hälften, andere nur Krüge (das sind Gefäße mit Herz und Lunge). Eine Klassenfrage. Die Hälfte von Marie heißt auch Marie und liegt einem schlafenden Klon gleich im «Erholungszentrum». Berühren verboten.
Marie Darrieussecqs dystopischer Roman Unser Leben in den Wäldern ist das biografische Heft, das die Protagonistin den Leser_innen hinterlässt. «Ich schreibe, um zu verstehen und um Zeugnis abzulegen, in ein Heft selbstverständlich, mit einem Holzbleistift mit Grafitmine, das gibt es noch: nichts, womit man online gehen kann.» Damit zumindest das Wissen, wenn schon nicht das Leben erhalten bleibt: «… ich möchte mir gern sicher sein, bevor es zerstört wird oder, was weiß ich, gesagt wird, ich hätte mir das alles ausgedacht, bevor es ins Lächerliche gezogen wird, kurz, ich möchte mir gern sicher sein, dass es zu Ende gelesen wird. Sonst nichts.»
In einer wilden Mischung aus Henry David Thoreaus Walden und Atwoods Report der Magd vor der Kulisse eines Bielski-Partisan_innenfilms verschwindet in Darrieussecqs Tech-Dystopie eine Gruppe von Menschen aus der Welt des Onlinezwangs und der vollkommenen Überwachung in den Schutz der Wildnis – solange es die noch gibt. «Es wäre ja nur logisch, wenn sie die Wälder abfackeln würden.» In kleinen und großen Aktionen befreien sie ihre Hälften aus den Heimen, sie graben Tunnel, um zu entkommen, hoffen auf etwas, das höchst unwahrscheinlich ist: die Überwindung der Tech-Diktatur. Bis eines Tages ein gehacktes Video offenbart, dass das Experiment ihres Lebens viel größer und grauslicher war, als sie sich vorstellen konnten.
Ein Feel-bad-Roman, geschrieben in bester Endzeitstimmung, der das Rad der Überwachungsängste zwar nicht neu erfindet, aber mit seinem Erzählsog die Leser_innen zumindest im Geiste zu den Waffen greifen lässt: offline gehen, Hälften befreien, abtauchen. Auf dass die Welt besser wird.
Marie Darrieussecq:
Unser Leben in den Wäldern
Secession 2019
110 Seiten, 18,50 Euro