In über 70 Ländern weltweit werden heuer neue Präsident:innen und Regierungen gewählt, bald auch in Österreich. Das Superwahljahr ist stark ideologisch, gefühlsbetont und offenbart die Fragilität von Demokratie. Was das mit den Supermarktkassierer:innen zu tun hat, erläutert Juristin und Autorin Sophie Schönberger.
In Ihrem neuesten Buch «Zumutung Demokratie» geht es darum, dass es eine Bedingung für die Demokratie ist, dass wir andere aushalten müssen. Gab es einen Anlass, warum Sie das genau zu diesen Zeiten geschrieben haben?
Sophie Schönberger: Das Buch ist tatsächlich sehr stark entstanden in der Auseinandersetzung mit der Corona-Pandemie, weil sie uns in unsere kleinen Kokons gebracht hat. Etwas, was uns eigentlich selbstverständlich erscheint – dass wir eben nicht alleine auf der Welt sind, dass wir anderen begegnen, dass wir uns mit anderen auseinandersetzen –, all das war auf einmal nicht mehr selbstverständlich. Und dann ist da diese Entwicklung, in der wir die Demokratie jetzt doch deutlich fragiler erleben, als es noch vor Jahren der Fall war.
Haben Sie eine Erklärung dafür?
Wir haben lange Zeit so ein bisschen der Vorstellung nachgehangen, die in den 1990er-Jahren sehr populär war. Francis Fukuyama hat dieses Stichwort vom «Ende der Geschichte» geprägt: dass nachdem sich durch den Fall des Eisernen Vorhangs die Demokratie als globales Erfolgsmodell durchgesetzt hat, alles gut wird und völlig klar ist, dass es immer so weitergeht. Das war eine wunderbare Geschichte, die auch sehr stark mit diesem westeuropäischen Erfolgsmodell der repräsentativen Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg übereinstimmte. Aber historisch gesehen ist es nie so gewesen, es gibt kein Ende der Geschichte.
Es ist nicht so, dass die Demokratie sich immer durchsetzt, sondern Demokratie kommt in Wellen. Es gibt gute Phasen und dann kommen auch wieder schlechte Phasen. Im Moment scheinen wir uns jedenfalls in einer schwierigen Phase zu befinden. Das hat damit zu tun, dass die Demokratie großartige Versprechen von Freiheit und von Gleichheit macht. Aber sie hat eben auch Seiten, die als nicht so positiv wahrgenommen werden und im Moment stehen diese vielleicht für viele Menschen stärker im Vordergrund.
Welche Seiten sind das und wie können wir dem begegnen?
In der Demokratie werden wir mit anderen Menschen in eine demokratische Gemeinschaft zusammengewürfelt und müssen das aushalten. Wir müssen aushalten, dass wir einerseits dieses große Versprechen von Freiheit und vor allen Dingen auch Gleichheit haben, aber dass das eben auch bedeutet, dass ich gleich bin und damit auch nicht mehr wert als alle anderen Bürgerinnen und Bürger, mit denen ich in der demokratischen Gemeinschaft zusammenlebe. Und das ist dann vielleicht besonders schwer oder schwerer auszuhalten, wenn man in einer Gesellschaft lebt, in der ansonsten das Ideal der Einzigartigkeit, der Individualität noch deutlich wichtiger geworden ist, als das vor einigen Jahrzehnten der Fall war.
Der Freiheitsgewinn, den wir durch die Demokratie haben, der ist sehr groß, nach wie vor. Dadurch gerät diese Dimension der Gleichheit vielleicht zunehmend in Vergessenheit.
Das bedeutet, dass nicht nur FPÖ- oder AfD-Wähler:innen mich aushalten müssen, sondern dass ich sie auch aushalten muss. Aber muss ich das, gibt es da nicht Grenzen?
Erst mal muss ich das. Es gibt Grenzen, aber die sind sehr weit hinten gesteckt. Aus dem einfachen Grund, weil ich sonst die Demokratie aufs Spiel setze, wenn ich versuche, mit autoritären Mitteln die Feinde der Demokratie zu bekämpfen. Denn wenn ich das tue, bin ich dann diejenige, die die Demokratie zerstört, weil ich sie eben ins Autoritäre kippen lasse.
Das ist ein Dilemma, aus dem man nicht rauskommt. Man muss damit leben, dass man jedenfalls erst mal eine ganze Weile sehr, sehr viel aushalten muss und den Weg suchen muss, in der Auseinandersetzung wieder zusammenzukommen, und nicht durch Verbote oder durch Ausgrenzung oder durch ein «Das darf nicht gesagt werden».
Aber wenn wir das dann den Autokrat:innen, die sich schon so als solche gebaren, überlassen, führt dann nicht jeder Weg, wenn wir so weitergehen, zwangsläufig in weniger demokratische Gefilde?
Nein, das muss und darf es auch nicht. Man muss andere Wege suchen, außer zu verbieten oder nicht aushalten zu wollen. Das ist immer der verlockende, weil scheinbar einfachere Weg. Aber so funktioniert Demokratie nicht, weil es eben nicht demokratisch ist, andere Meinungen einfach zu verbieten und sich nicht damit auseinanderzusetzen. Denn die Demokratie stellt gerade die sehr, sehr anspruchsvolle Anforderung, dass erst mal alle gleich sind, auch die, deren Meinung mir nicht passt, auch die, die erst mal nicht die Werte der Demokratie teilen. Und dann ist es eben diese ganz extrem schwierige Aufgabe im Wege der Auseinandersetzung, dafür zu werben, dass eben die Menschen doch wieder zur Demokratie zurückkehren. Oder um es ganz vereinfacht zu sagen: Ich kann halt keine Demokratie ohne Demokratie machen. Das kann auch das Recht, das kann die Verfassung nicht gewährleisten.
Wir haben jetzt viele Debatten rund um das Thema «mit Rechten diskutieren». Manchmal hat man das Gefühl, dass es eben mehr ums Gefühl geht. In meiner Jugend habe ich neben irgendeinem Menschen getanzt und mit dem Spaß gehabt, der politisch ganz woanders stand. Ich habe den Eindruck, dass das nicht mehr stattfindet.
Ja, in der Tat, das ist auch eine Beobachtung, die ich mache, und das ist problematisch.
Sie haben dieses schwierige Projekt «mit Rechten reden» angesprochen. Das ist unfassbar anspruchsvoll, anstrengend und auch leider nicht immer von Erfolg gekrönt. Deswegen sollte man sich meiner Meinung nach stärker erst mal auf die Schritte davor konzentrieren und sagen, vielleicht muss man auch nicht immer miteinander reden und sich die Köpfe heiß diskutieren. Es würde ja schon reichen, wenn ich den anderen in einer Art und Weise wahrnehme, dass beide Seiten akzeptieren, dass man zur demokratischen Gemeinschaft gehört und dass der andere dieselben Rechte, dieselbe Stellung, dieselbe Berechtigung hat, da zu sein, seine Meinung zu sagen, auch wenn diese Meinung für mich schwer auszuhalten ist. Denn das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass Demokratie funktioniert. Das ist wirklich ein schwieriges Projekt, und ich glaube tatsächlich, dass es deswegen schwieriger geworden ist, weil die Notwendigkeit, das zu machen und das einzuüben, abgenommen hat.
Warum eigentlich?
Das fängt mit der Wohnsituation an. Wenn wir in Erinnerung rufen, wie die Leute in den 1950er- oder 1960er-Jahren, gewohnt haben, wie die Haushaltsgrößen waren und wie sie heute sind, dann ist schon auf der banalen Ebene – ich muss meine Küche, mein Badezimmer, mein Wohnzimmer, etc. mit anderen Menschen teilen – das hat schon drastisch abgenommen.
Das sind aber so banale Momente, wo ich lerne, mich mit anderen auseinanderzusetzen und zu arrangieren, auch wenn es mir manchmal nicht passt. Auch bei der Freizeitgestaltung. Die Bindekraft von Vereinen nimmt ab und wir lesen viel über das Club-Sterben. Das hat auch viel mit neuen Formen der Kommunikation im digitalen Raum zu tun. Dort kann ich sehr viel selektiver auswählen, was ich mache und mit wem ich das mache.
Müsste man da nicht auch das Schulsystem reinnehmen? Es fängt ja schon da an, dass sich Kinder entlang von sozioökonomischen Trennlinien einfach nicht begegnen.
Ich bin in dem Buch bewusst nicht auf die Schulen eingegangen, weil ich finde, dass das der Bereich ist, über den sogar noch am meisten gesprochen wird und der mir zu stark die Kinder in die Verantwortung nimmt und die Erwachsenen aus ihr rausnimmt.
Sie sind mit einem Rechtsexperten verheiratet und waren eine Zeit lang in Paris und Venedig. Hat das Ihren Blick auf die Gemengelage geschärft?
Ich glaube, dass Aufenthalte im Ausland immer den Blick schärfen. Venedig ist ein extremes Beispiel, weil man da dieses Übertourismus-Phänomen hat, wo man sieht, was passiert, wenn Städte als soziale Räume verloren gehen und einfach nur noch als museale Orte rekonstruiert werden. Ansonsten bin ich ein ganz, ganz großer Fan der europäischen Stadt. Denn verglichen mit den USA, wo diese Individualisierungstendenzen, dieses fehlende Miteinander, dieses Sehr-auf-sich-selber-fixiert-Sein noch deutlich stärker ist, als das im Moment in Europa der Fall ist.
Was kann ich oder was können andere Menschen ganz konkret in ihrem Alltag tun, um Hoffnung für die Demokratie zu schaffen?
Durch die Welt gehen und versuchen, andere Menschen stärker wahrzunehmen: An der Supermarktkasse durch die anderen Menschen in der Schlange und durch die Kassiererin, den Kassierer nicht einfach durchzugucken, sondern sie als Menschen wahrzunehmen. Hallo und tschüss, danke und bitte sagen.
Das sind Dinge, die verloren gehen und die für das soziale Miteinander, aber letztlich auch für die demokratische Gemeinschaft problematisch sind, wenn ich Menschen nicht mehr wahrnehme, sondern nur noch durch sie hindurchgucke.
Und ich finde, auch die Politik ist am Zug, man müsste sich viel mehr Gedanken darüber machen, wie man in der Breite Menschen wieder von der Demokratie überzeugt. Die Leute wählen auch nicht rechtsextreme Parteien, weil die Parteiprogramme so furchtbar rationale, überzeugende Lösungen haben, sondern weil sie ein Gefühl bedienen, was diffuses Unbehagen, Unsicherheit reflektiert. Ich finde, da müsste die Politik noch viel stärker ansetzen und fragen, was sind das für Gefühle? Und wie können wir die Menschen in diesen Gefühlen ernst nehmen, abholen, aber eben auch eine positive Vision von der Demokratie dagegensetzen?
Wie erleben Sie das Superwahljahr in Europa?
Mit Sorge, aber ich versuche, optimistisch zu bleiben, weil alles andere nicht hilft. Ich zitiere da gerne Jan Werner Müller, einen Politikwissenschaftler, den ich sehr schätze und der in Princeton lehrt. Er hat ein großartiges Buch über die Krise der Demokratie geschrieben und es damit beendet, dass es Gründe für Hoffnung gibt, wenn auch nicht für Optimismus. Daran halte ich mich fest.
Sophie Schönberger, 45, Juristin, leitet das Institut für Öffentliches Recht, Kunst- und Kulturrecht der Universität Düsseldorf. Sie hat den deutschen Bundestag zum Wahlrecht beraten; ihr Spezialgebiet ist die Parteienforschung. Schönberger schreibt allgemein verständliche Bücher, zuletzt Zumutung Demokratie. Darin geht es auch um Gefühle und Eckkneipen – und was das alles mit Demokratie zu tun hat.
Sophie Schönberger: Zumutung Demokratie. Ein Essay
C.H. Beck 2023
189 Seiten, 16 Euro