20 Jahre Augustin - Der erste Jahrgang
Brav, im Rückblick fast peinlich brav. So brav, dass Kolleginnen und Kollegen der ersten Stunde, die es bis heute im Augustin-Projekt ausgehalten haben, das gründerzeitliche Tauziehen um die Linie des Augustin ziemlich verdrängt haben. So mutet der erste Jahrgang an, der bloß aus drei 24-seitigen Ausgaben besteht: Oktober, November und Dezember 1995.Tauziehen? Zwei «Kulturen» innerhalb der Herausgeber_innengruppe standen einander gegenüber, als es zu entscheiden galt, ob das neue Wiener Straßenblatt – schon ab Nr. 1 hatte es den Zusatztitel «Erste Österreichische Boulevardzeitung» – im Kielwasser der Sozialdemokratie groß werden sollte. In diesem Kielwasser kann nur groß werden, wer darauf verzichtet, eine radikale Lobby und eine unbekümmert tendenziöse, auf journalistische Pseudoobjektivität pfeifende Plattform der Ausgestoßenen zu werden. Die «Unbeugsamen» der Projektgruppe konnten von dieser Orientierung nicht loslassen. Wer nur die ersten drei Ausgaben des Augustin kennt, würde vermutlich auf den ersten Blick ihr Scheitern wahrnehmen.
Die rathausaffinen Kolleg_innen der ersten Stunde wollten nur das Beste, und das hieß für sie: Integration des Straßenzeitungsprojekts in das System der «roten» Wohlfahrtseinrichtungen. Weil sie die notorischen «Gutmenschen» aus Politik, Entertainment, Film und Musik als Mäzen_innen und Sponsor_innen mobilisierten, war klar, dass sie viel zu sagen hatten: Money makes the world go round. Plötzlich war der Augustin umringt von guten «Pat_innen», die oft nicht einmal selber ihre Pat_innenschaft begründen mussten: der damalige Bürgermeister Helmut Zilk kam in Nr. 1 mit Worten zu Wort, die er gar nicht selber formulieren musste. Das erledigte sein Ghostwriter aus dem Gründungsteam. Es ist nicht mehr eruierbar, ob dem Bürgermeister vorgelegt wurde, was er in der Startausgabe über den Mitleidseffekt «verfasste»: «Du siehst den Armen, und weil du ihn siehst, möchtest du ihm helfen. Mitleid ist wichtig. Viel wichtiger ist das, was man im Sinne von Kant normative Ethik nennen könnte: Handeln aus Pflicht. Du hilfst dem Armen nicht, weil er dir leidtut, sondern weil du die Pflicht hast, ihm zu helfen. Der Impuls, zu helfen, muss sozusagen vom Über-Ich her kommen».
In weiterer Folge wird Helmut Zilk als Pate des Augustin nie mehr in Erscheinung treten, und zum Zeitpunkt des Amtsantritts des Nachfolgers Michael Häupl ist der Anarchiegehalt des Augustin-Projekts schon so durchschlagend, dass Parteienvertreter_innen jeder Farbe eine herzliche Ablehnung spüren, wenn sie als «Freunde des Augustin» zu einer Umarmung ansetzen. Die Mitglieder des Teams werden oft selber überrascht sein, wie sehr sie auf den Geschmack gekommen sind, den «Helfer_innen» aus der Parallelwelt des Parlamentarismus den Stolz der Unvereinnahmungsbereiten entgegenzuwerfen.
Etwas von dieser Unversöhnlichkeit war schon in den ersten drei Ausgaben enthalten. Die Zeitung war eben in ihrem ersten Jahrgang eine hybride Mischung aus Anpassung und Subversion. Für Letzteres stand unter anderem ein Name, der wie eine Marke für angewandte Leistungsfeindlichkeit das Projekt viele Jahre lang begleiten sollte: Sandlerkönig Smoky. Natürlich handelte es sich um einen selbsternannten König: Smoky wusste, wie er sich für den ORF und die anderen Medien interessant machen konnte. Die Hochkultur liebte den gewitzten Hochstapler, dessen Umtriebigkeit viel zum Bekanntwerden des Augustin beitrug. Die Wiener Clochards waren sowieso unregierbar, darum regte sich auch keiner über seine Hochstapelei auf. Für den Augustin, den er auch von Beginn an vertrieb, verfasste er schon für die erste Ausgabe eine anarchistische Rezeptur für das Vermeiden von Geldausgeben für die Bahnfahrt von Österreich nach Spanien. Die bürgermeisternahen Augustin-Retter_innen werden nicht very amused über Smokys Anleitung zum Gesetzesbruch gewesen sein:
(Schwarzfahrend) in Salzburg angekommen, nimmt man am besten den Korridorzug, damit kommt man sicher nach Kufstein und weiter nach Innsbruck. Dort warte man die Nacht ab und schnorre sich ein wenig Geld für eine Flasche Rotwein. Sich im Supermarkt etwas zu organisieren, ist in Österreich unrentabel, denn der österreichische Untertanengeist ruft sofort nach Polizei. In Madrid dagegen kann man sich Essen und Trinken in jedem Supermarkt organisieren, denn im mediterranen Ländern holt niemand wegen ein bisschen Wurst, Käse und Wein die Polizei (…) In Barcelona ist der Plaza Real der Treffpunkt der Landstreicher und Wegelagerer. Vorsicht mit dem Gepäck. Denn die Diebe lauern überall, und sie sind noch dazu beleidigt, wenn sie erwischt werden. Denn sie betrachten das Stehlen als Beruf.
Insgesamt erweckt der Augustin in seiner Babyphase den Eindruck, dass der Schwerpunkt Wohnungslosigkeit, um den sich das journalistische und autobiographische Schreiben zu drehen habe, programmatisch war. Die vielen Berichte über Obdachlose, dazu die vielen Selbstdarstellungen ihrer bedauerten bis romantisierten Existenz, verfestigten das Etikett der «Obdachlosenzeitung», das sich als unverwüstlich erwies, obwohl es der Realität längst widerspricht: Die Zeitung wird in erster Linie von professionellen Journalist_innen gefüllt, und unter den Verkäufer_innen sind die klassischen Obdachlosen längst die Minderheit.