«Patient:innen haben das Recht, ernst genommen zu werden»tun & lassen

Eva Untersmayr-Elsenhuber und Martin Komenda-Lett (Foto: © Michael Bigus)

Fehlende Diagnose, fehlende Expertise, fehlende Forschungsgelder. Vier Jahre nach Ausbruch der COVID-19-Pandemie leiden mehrere Hunderttausend Menschen in Österreich an Long-COVID. Zwei Ärzt:innen erklären die Hintergründe und machen Vorschläge dafür, wie es besser laufen könnte.

 

Wie viele Menschen sind von Long-COVID und speziell vom Typ ME/CFS betroffen?

Martin Komenda-Lett (KL): In Österreich existieren keine offiziellen Zahlen. Wir können nur Vergleichswerte von Ländern mit einer ähnlichen Bevölkerungsstruktur heranziehen, wo man davon ausgeht, dass sechs bis fünfzehn Prozent der Personen, die mit COVID infiziert waren, von Long-COVID betroffen sind. Bei dieser Zahl sind jedoch alle Verlaufsformen mit eingerechnet. Die schwerste Verlaufsform – Post-COVID vom ME/CFS-Typ– betrifft ca. 100.000 Menschen in Österreich.
Eva Untersmayr-Elsenhuber (UE): Laut Schätzungen aus internationalen Studien, teilweise noch vor der Pandemie durchgeführt, leiden etwa 0,6 bis 0,8 Prozent der Bevölkerung an ME/CFS. Man kann davon ausgehen, dass durch die Pandemie mehr Personen davon betroffen sind. Die große Problematik ist die fehlende Diagnose und damit die fehlende Kodierung im Gesundheitssystem, daher sind die Zahlen nur Schätzungen.

Wie entsteht ME/CFS eigentlich? Gibt es eine Theorie, die alle Symptome erklären kann?

UE: Diese Erkrankung wird multifaktoriell bedingt und muss darum auch multidisziplinär behandelt werden. Es gibt verschiedenste Erklärungsansätze. Eine Hypothese lautet, dass es zu einer Dysregulation der ­Immunantwort nach einer Infektion kommt. Bei etwa 70 bis 80 Prozent der Patient:innen ist eine ­Infektion vorausgegangen. Nach schweren Traumata, nach starken hormonellen Veränderungen kann ebenfalls ME/CFS auftreten.
Die Hypothese der Autoimmunität besagt, dass sich eine überschießende Immunantwort gegen körpereigene Bestandteile richtet. Aber auch Immundefekte sind gehäuft zu finden – was wiederum zu einem längeren Überleben des Virus im Körper, also einer Persistenz führen kann beziehungsweise können andere, bereits im Körper schlummernde Viren reaktiviert werden.
Eine andere These beschäftigt sich mit ­einem veränderten Mikrobiom (die Gesamtheit aller Mikroorganismen wie Bakterien, Pilze oder Viren, die den Menschen besiedeln, Anm.). Man hat beobachtet, dass sich bei jenen, die länger bestehende Beschwerden haben, das ­Mikrobiom nicht wieder zu seinem Ausgangszustand reguliert.
KL: Wir gehen davon aus, dass das Virus zu Organschäden im Körper führt: Schäden an den Gefäßen, am autonomen Nervensystem, an der Muskulatur und an den Immunzellen. Nach wie vor wissen wir nicht, warum ­manche ­Betroffene nicht mehr aus diesem Teufelskreis herauskommen, hingegen bei anderen eine ­Remission möglich ist.

Wenn jemand den Verdacht hat, unter der Erkrankung zu leiden – wohin sollte sich diese Person wenden?

KL: Zu Beginn der Erkrankung ist noch nicht ersichtlich, ob es zu einer Chronifizierung kommt. Das heißt, für die allermeisten wird der erste Kontakt ein:e Allgemeinmediziner:in sein, wo bereits erste wichtige differentialdiagnostische Schritte gesetzt werden sollten.
UE: Was die Organschäden betrifft, ist zum Beispiel eine kardiologische Abklärung essenziell, weil es bei Erkrankungen aus diesem Formenkreis zu ähnlichen Beschwerden kommen kann. Ebenso müssen auch mögliche Lungenschäden abgeklärt werden. Irgendwo müssen diese ganzen Befunde dann wieder zusammengetragen und evaluiert werden – auf Neudeutsch würde man das «Case Management» nennen. Wie gut so etwas funktionieren kann, haben die COVID-Clearingstellen gezeigt.
KL: Leider gibt es diesbezüglich momentan keine öffentliche Anlaufstelle. Und genau das ist das Dilemma in Österreich.

Als Post-Vakzin-Syndrom bezeichnet man lange anhaltende Nebenwirkungen von Impfungen. Kommt es durch die COVID-Impfung häufiger vor als bei anderen Impfungen?

KL: Das Problem ist, dass das Post-­Vakzin-Syndrom noch weniger erforscht ist als post­infektiöse Syndrome. Hypothetisch geht man davon aus, dass durch die Impfung eine ­starke Immunreaktion ausgelöst wird. Aber der Patho­mechanismus ist nicht im Detail bekannt.
UE: Viele Fälle sind in einer Zeit aufgetreten, in der zugleich viel geimpft wurde und ­viele Infektionen aufgetreten sind. Noch nie zuvor ist ein Impfprogramm in dieser Größenordnung durchgeführt worden, und es ist logisch, dass dadurch die geringe Anzahl von Fällen mit bleibenden Nebenwirkungen mehr ins Gewicht fallen. Das Wichtigste ist, die betroffenen Patient:innen adäquat zu betreuen, zu behandeln und abzuklären. Aber eine eindeutige Kausalität zwischen Impfung und Erkrankung herzustellen ist in vielen Fällen sehr schwierig.

Würden Sie Patient:innen mit bestehendem ME/CFS zu weiteren Impfungen raten?

UE: Aus meiner Sicht als klinische Immunologin: absolut! Der Schutz vor einer Infektion überwiegt bei Weitem das Risiko einer vorübergehenden Zustandsverschlechterung. Wenn man den Patient:innen vorher Bescheid sagt, sie sollen nach einer Impfung besonders auf Pacing, also ihr Energiemanagement, achten, dann erholen sie sich für gewöhnlich ohne Probleme wieder.

Stichwort Pacing: Wenn bei Belastungsintoleranz (PEM) eine an sich empfohlene, aktivierende Therapie aufgrund des Krankheitsbildes nicht angewendet werden darf, was können Betroffene tun?

KL: Gerade bei schwer Betroffenen liegt der Fokus auf dem Erhalt der Gelenksbeweglichkeit und der Muskulatur, um sekundäre Folgen zu vermeiden. Es gibt Kolleg:innen, die in dem Bereich aktiv sind, und ich überweise gerade schwer Betroffene immer an spezialisierte Physiotherapeut:innen, die genau darauf Rücksicht nehmen und trotzdem eine Bewegung im Rahmen der Belastungsgrenzen ermöglichen.
UE: Wenn man für die Patient:innen die richtigen symptomatischen Therapien findet, können damit oft die Belastungsgrenzen verbessert werden. Leichtes Training – und seien es nur kurze Spaziergänge – wird dann im eingeschränkten Umfang wieder machbar. Es geht schließlich auch um die Bewältigung des Alltags. Hier spielen auch Ergotherapeut:innen eine tragende Rolle.

Manche Betroffene geben viel Geld für Nahrungsergänzungsmittel und ­andere Heilbehelfe aus, um die Genesung voranzutreiben. Gibt es Therapien, von ­denen Sie abraten würden?

KL: Ich versuche immer, bei Patient:innen, die mit einer langen Liste an Therapieversuchen zu mir kommen, Struktur reinzubringen. Jedes Präparat muss eine klare Berechtigung haben. Daher ist es meiner Meinung nach sinnvoll, das Thema Nahrungsergänzungsmittel in einen Stufenplan einzubauen. Abraten würde ich von allen Behandlungen, die nicht evidenzbasiert, zudem teuer sind.
UE: Da muss ganz dezidiert zuerst Patient:innen-Stratifizierung – also die Abschätzung von Risiken – in Therapiestudien durchgeführt werden, um entscheiden zu können: Wäre das geeignet für diese oder jene Person? Wir würden gerne kausale Therapien anbieten, aber so weit sind wir leider noch nicht. Deshalb der Appell an die Öffentlichkeit: Es braucht mehr Forschungsförderung!
KL: Es ist übrigens nicht so, dass keine medikamentösen Therapien verfügbar wären. Es gibt bekannte Off-Label-Therapien, die in internationalen Leitlinien zu finden sind, wie etwa in den NICE-Guidelines aus Großbritannien oder auch in der S1-Leitlinie in Österreich.
UE: Und auch für einige Komorbiditäten (Erkrankungen, die zur Grunderkrankung hinzukommen, Anm.), die im Zuge von postviralen Syndromen auftreten, gibt es bereits Therapeutika.

Was bräuchte es denn am dringendsten, damit Betroffenen in Zukunft besser geholfen werden kann?

KL: Bei der Versorgung sehe ich einen öffentlichen Auftrag, weil das ein gesundheitspolitisches Thema ist. Patient:innen haben ein Recht darauf, dass sie mit dieser Erkrankung ernst genommen, adäquat betreut und behandelt werden. Ein Referenzzentrum als zentrale Expertisestelle für Empfehlungen und Therapieleitlinien ist bereits in Planung. Die andere Seite ist die Basisversorgung. Es braucht eine öffentliche Einrichtung, wohin Allgemeinmediziner:innen die ­Betroffenen überweisen können, wenn Bedarf auf spezialisierte Betreuung vorhanden ist.
UE: Wenn ich ergänzen darf – auch die kontinuierliche Fortbildung der Kolleg:innen ist ganz wichtig. In diesem Bereich tut sich gerade extrem viel. Selbst für Personen, die sich tagtäglich mit dem Thema beschäftigen, ist es oft schwierig, am neuesten Stand zu bleiben.

 

Assoz.-Prof. DDr. Eva Untersmayr-Elsenhuber ist Fachärztin für klinische Immunologie und Arbeitsgruppenleiterin am Institut für Pathophysiologie und Allergieforschung. Für ihre Publikationen zu immunbedingten und post-infektiösen Erkrankungen, die in renommierten internationalen Fachzeitschriften erschienen sind, wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Darüber hinaus ist sie Vorstandsmitglied in wissenschaftlichen Gremien wie der Österreichischen Gesellschaft für Allergologie und Immunologie und der Europäischen Akademie für Allergologie und klinische Immunologie.

Dr. Martin Komenda-Lett ist Facharzt für Neurologie und Oberarzt der Stroke Unit an der Klinik Favoriten. Sein medizinischer Schwerpunkt liegt neben zerebrovaskulären Erkrankungen und Neuroonkologie auch auf komplexen chronischen Multisystem­erkrankungen wie ME/CFS oder dem Post-COVID-Syndrom.