«Pelé geht mir auf die Nerven»tun & lassen

WM in Brasilien ist teurer als Südafrika und Deutschland zusammen

Der Grafikdesigner, Autor und Fotograf Alois Gstöttner hat ein kritisches Buch zur Fußball-WM veröffentlicht: „Gooool do Brasil“. Der Augustin sprach mit ihm unter anderem über den Peladão, eines der größten Fußballturniere der Welt, und dessen anarchistische Abwehrhaltung gegen das FIFA-Regelwerk. Es gibt z. B. keine Abseitsregel, weil Abseits kompliziert zu verifizieren ist.Warum interessiert dich Fußball?

Fußball ist einfach ein großartiges Spiel, das sich besonders in Brasilien dafür eignet, um über andere Dinge zu berichten. Ein Buch über die Stadtgeschichte von São Paulo kann man sehr gut über Fußball erzählen, auch für die Migrationsgeschichte von Brasilien ist Fußball ein gutes Trägermedium.

Wieso ist das gut erzählbar?

Fußball ist 1894 nach Brasilien gekommen, durch Charles Miller, der mit zwei Fußbällen unterm Arm über Santos nach São Paulo gekommen ist. Er hat festgestellt, dass Fußball noch unbekannt ist und diesen Sport über die Jahre in Brasilien etabliert. Damals haben die Spiele im Zentrum der Stadt gefunden, die in weiterer Folge von 50.000 EinwohnerInnen auf mehrere Millionen angewachsen ist. Die Spielfelder sind immer mehr an den Stadtrand gedrängt worden und ich war auch dort, bei Spielen der Amateurliga.

Du warst bei einer Spielerbesprechung beim Vororte-Club Boa Esperança in São Paulo dabei und beschreibst dies als eines deiner tollsten Erlebnisse im Kontext mit Fußball. Was war das Besondere daran?

Das war eben in São Paulo, das Viertel heißt Boa Esperança, gute Hoffnung. Das ist nicht direkt eine Favela, aber es befindet sich im Übergang zwischen Favela und regulärer Bebauung. Der Trainer Betão hat mich in die Umkleidekabine eingeladen und das war einfach ein Moment, in dem ich das Gefühl gehabt habe, ganz tief im Inneren von Fußball zu sein. Das war intim, exklusiv und emotional aufgeladen, als ,Teil der Mannschaft‘ wahrgenommen zu werden. Der Zauber von Fußball liegt ja hoffentlich nicht nur im makellosen Spiel eines Teams, sondern in den Situationen, die im Abseits entstehen. Dort ist man auch Teil einer Community, das kann dir Barcelona oder Bayern München nicht bieten.

In Brasilien findet eines der größten Fußballturniere der Welt statt, der Peladão.

Genau, der Peladão in Manaus ist kombiniert mit einer Schönheitsköniginnen-Wahl. Jede Mannschaft muss eine Schönheitskönigin nominieren, das sind zwei Bewerbe, die parallel ablaufen. Schöner – im Vergleich zu den FIFA und UEFA-Turnieren – ist am Peladão, dass auf örtliche Gegebenheiten Rücksicht genommen wird. Wenn eine Mannschaft eine gelbe Karte bekommt, muss sie den Kindern der anderen Mannschaft Bälle schenken. Es gibt auch kein Abseits, weil es zu kompliziert zu verifizieren ist.

Fußball beinhaltet gerade in Lateinamerika oft eine politische Komponente. Du hast auch den Spieler Dr. Socrates interviewt.


Socrates war der Kapitän der 1982er-Mannschaft und nach seiner Karriere politisch sehr engagiert. Wir haben über Fußball und Freiheit gesprochen, in den 1980er wurde während der Militärdiktatur in seinem Verein Corinthians eine demokratische Struktur eingeführt: Statt Rückennummern hat die Mannschaft Demokratiebekundungen auf den Trikots getragen. Socrates wäre stolz auf seine Landsleute, die jetzt auf die Straße gehen und für ein besseres Brasilien kämpfen.

2013 gab es Proteste während des CONFED-Cups in Brasilien. Rechnest du mit Protesten während der WM?

Ja. Mittlerweile kann man davon ausgehen, es sind schon viele Demonstrationen angekündigt. Die Proteste richten sich immer mehr direkt gegen die WM und gegen die FIFA. Vor einem Jahr waren die Demonstrationen noch breiter gefächert: Für ein besseres Gesundheits- und Schulsystem, für bessere Infrastruktur. Infrastruktur war das erste Thema in São Paulo, weil die Fahrpreise erhöht wurden. Jetzt ist auch Korruption bei den Stadionbauten ein Thema.

Diese WM ist eine der teuersten aller Zeiten. Von Südafrika weiß man, dass nur rund 20 Prozent der WM-Investitionen wieder eingespielt wurden. Ist das in der öffentlichen Meinung in Brasilien präsent?

Ja, die WM in Brasilien ist teurer als die Weltmeisterschaften in Südafrika und Deutschland zusammen. Die öffentliche Meinung hat sich sehr gewandelt: Vor einem Jahr gab es noch einen hohen Zuspruch, laut neuesten Studien sind nur mehr 45 Prozent für die WM. Mein Hauptkritikpunkt ist, dass die FIFA keine Sensibilität gegenüber lokalen Gegebenheiten zeigt. Eine WM in Deutschland sieht gleich aus wie eine WM in Brasilien. Die FIFA geht mit einem Gewinn von 3 Milliarden Euro, steuerfrei, aus dieser WM und Brasilien bleibt auf einem Großteil der Stadien sitzen. Genau wie in Südafrika oder in Klagenfurt. Infrastrukturprojekte gibt es zwar, aber nicht sehr nachhaltig oder nur für die reicheren Teile der Bevölkerung: Die Südzone in Rio ist mittels U-Bahn recht gut erschlossen, die Nordzone, wo die ärmere Bevölkerung lebt, ist kaum an das Zentrum angeschlossen.

Pelé, einer der besten Spieler Brasiliens, ist heute als Teil des herrschenden Systems zu sehen, oder?

Pelé geht mir auf die Nerven! Pelé ist sicher Teil des Systems, er lässt sich instrumentalisieren, er ist Teil des Organisationskomitees und äußert sich kritisch gegenüber den DemonstrantInnen, was ich sehr schade finde.

Wer wird Weltmeister?

Brasilien!

#gooooldobrasil – Fotos von Alois Gstöttner

West 46, 7., Westbahnstr. 46, bis 21.6.2014, täglich ab 16h

www.club-bellevue.com