Entzündete Seelen
Was bisher geschah:
Nachdem Felix stundenlang auf eine Mitfahrgelegenheit wartet, nimmt ihn schließlich Fernfahrer Jure in seinem LKW mit. Die Fahrt entpuppt sich als alkoholgeschwängerter Kampf gegen den Schlaf.
Foto: Tobias Natter
Entzündete Seelen
Als ich wieder zu mir kam, stand unser Lkw auf einem Rastplatz irgendwo in der Steiermark. Ich hatte die ganze Länge des Beifahrersitzes in Beschlag genommen und lag dort wie ein nasser Riesenfötus. Dünn und ausgemergelt, kurz vor dem Verdursten, richtete ich mich auf. Mein Mund war zur Sahelzone verkommen, mein Körper eine ausgedörrte, leere Hülle. Wo zum Teufel war das Mineralwasser? Nach einigen verzweifelten Augenblicken fand ich es schließlich auf dem brennheißen Armaturenbrett, wo ich mir glatt die Finger verbrannte: Es gönnte sich dort ein Sonnenbad. Das Wasser war zwar warm wie Pisse, aber es war Wasser und es stillte meinen Durst. Ich leerte die Petflasche binnen wenigen Sekunden, verschluckte mich mehrmals dabei – ganz so, wie es für Verdurstende kurz vor dem Kollaps nun mal üblich ist. Eineinhalb Liter neues Leben fluteten sogleich meine welken Gehirnwindungen, befreiten meine Synapsen vom trockenen Staub, der sich dort während ich schlief niedergelassen hatte. Derart gestärkt und ausgeruht machten wir uns wieder auf Reisen. Erneut auf der Autobahn – der Asphalt hatte uns wieder – und seit Tagen endlich wieder klar im Kopf, stellten sich dem Reisenden in mir plötzlich folgende Fragen: Wo führt mich eigentlich diese Straße hin? Wo endet sie? Die Antwort darauf war angesichts der wie Versatzstücke an mir vorbei geschobenen Landschaften denkbar einfach: All das spielte überhaupt keine Rolle!
Kontemplatives Schweigen
Jure und ich hatten fast den ganzen Nachmittag auf dem Autobahnrastplatz verbracht. Der Fernfahrer hatte sein Schlafkontingent für heute geleert und saß nun wieder fest im Sattelschlepper. Kontemplatives Schweigen füllte jetzt die Fahrerkabine. Ich starrte mit leeren Augen auf die am Lkw vorbei brausenden Leitlinien: Sie zeigten uns den Weg nach Süden. «Süden» – nie zuvor erweckte dieses Wort so viele Erwartungen in mir. Es war wie ein Silberstreifen am Horizont. Meine noch immer leicht entzündete Seele lächelte bei diesem Gedanken und baumelte mit den Stoßdämpfern unseres Vehikels im Takt. Meine schulterlangen Haare klebten mir indes wie braune Algen im salzigen Gesicht; die Luft war auch am späten Nachmittag immer noch zum Schneiden. Man hätte eine Machete dafür gebraucht. Mein rostiger Leatherman war hier wertlos. Jure saß mit hochrotem Kopf zufrieden am Steuer. Er leuchtete wie eine Signalboje. Ich stellte mir vor, dass man ihn auf der Gegenfahrbahn schon von weitem durch die Frontscheibe sehen konnte. Sicher kein Nachteil. Der Schweiß perlte auf seinem Bauch – wo er sich in seinem gewaltigen Bauchnabel wie in einem Becken sammelte und langsam verdunstete. Ich hatte etwas Angst, dass mein Fahrer in Flammen aufgehen könnte, als wir durch die grüne Oststeiermark Richtung Graz hüpften. Diese verflog aber gleich, nachdem er mich charmant anlächelte und mir mit seinen nassen Armen gestikulierend eine Frage stellte. «Nach Ljubljana», sagte ich. «Aaaahhhh». Es war mir eigentlich egal. Aber Jure hatte das passende Kennzeichen dazu. «Družina!?» «Was?» «Družina!?» «Keine Ahnung.» Er malte mit seinem fetten Zeigefinger so etwas wie Figuren in die heiße Luft. Kleine und größere. «Achso! Family?» «Da, da!» Jure wackelte aufgeregt mit dem Kopf. Das pneumatische Sitzsystem unter ihm freute sich sogleich in Schockwellen energieübertragend mit seinem Besitzer, sodass beide quietschend auf und ab sprangen. Jure erzählte mit Hilfe seiner Luftzeichnungen, dass sein Sohn ebenfalls Fernfahrer ist und seine Tochter in der Touristik arbeitet. Seine Augen verrieten es: Er war ohne Zweifel stolz auf seine Kinder und ich konnte mir gut vorstellen, wie er sie vermisste. «Madame», sagte er schließlich und kramte auf der Mittelablage zwischen Verladelisten und Zeittabellen etwas hervor. Seine Frau konnte nur ein cooles Haus sein, war ich mir sicher und freute mich schon lächelnd auf das Bild seiner «Madame». Jure überreichte mir einen Zeitungsausschnitt und brach komplett aufgelöst in Tränen aus. Sein ganzer Körper bebte, sein Mund zitterte heftig. Jure schluchzte und weinte mit gesenktem Kopf, völlig resignierend, als ob es das erste oder das letzte Mal in seinem Leben wäre. Ich hielt die Todesanzeige seiner Frau in Händen. Das Datum der Anzeige war gerade mal drei Tage alt.
«Per Anhalter» wird in unregelmäßigen Abständen fortgesetzt. Teil eins von Tobias Natters Reisekolumne erschien in Augustin Nr. 435 und ist auch hier nachzulesen.